Erschienen in: Ana Roldan, Edizioni Periferia, Luzern 2009.
Zwei Stäbe lehnen an der Wand. Auf Augenhöhe nähern sich die schmalen Hölzer einander an. Beide Enden sind zu spitzen Pfeilen geformt und in der Mitte mit einem breiten Griffbereich ausgestattet. Es könnte sich dabei um eine einfache Waffe handeln. Doch fällt es schwer, in den beiden Gegenständen ein besonders grosses Gefährdungspotenzial zu erkennen – wirken die hölzernen Spitzen hier eher fragil und zerbrechlich. Im Allgemeinen werden Waffen dieser Art mit einem abschreckenden Aussehen ausgestattet. Statt wie üblich mit einem gehärteten Kopf aus Stein oder Metall für ihre tödliche Bestimmung bewehrt, sind die Hölzer von einer dünnen Wachsschicht überzogen. Es scheint, als müssten Two Long weapons without armor, 2006, selbst vor einer verletzenden Benutzung geschützt werden.
Seit einigen Jahren übernehmen Gegenstände, die aus der Einrichtung historischer Lebenswelten stammen könnten, eine wichtige Rolle in verschiedenen Installationen und Performances von Ana Roldán. So tauchen etwa vermeintliche Waffen, Stühle oder Vasen in den räumlichen Inszenierungen der Künstlerin auf. Im Unterschied zu historistischen Möbeln ahmt Roldán jedoch keine zeitlichen Spuren einer Abnutzung nach, sondern bedient sich lediglich aus dem Formenvokabular historischer Gebrauchsgegenstände. Dabei lassen sich verschiedene Einflüsse nach Lateinamerika, Asien und Europa zurückverfolgen – Regionen, die auch mit den biografischen Stationen der Künstlerin verknüpft sind.
Gehören die Dinge etwa einem der Protagonisten, der soeben die Szenerie der Installation verlassen hat? Oder nehmen sie – gleichsam stellvertretend für Personen – ihren Platz als Darsteller in einer möglichen Dramaturgie ein? Auf die Frage, ob Design für ihn einen Modus des allgemeinen Ausdrucks bedeute, antwortete Charles Eames 1972: «Nein – eine Methode des Handelns.»[1] Das Design von Gebrauchsgegenständen impliziert demzufolge auch eine Handlung, die im Sinne von Eames’ Aussage dem potenziellen Nutzer eine Tätigkeit vorschlägt. Diese performative Eigenschaft des Designs bringt Roldán nun im Kunstkontext ins Spiel, wenn im Jahre 2008 archaische Wurfspeere lässig an der Wand eines Ausstellungsraumes lehnen. Eine Benutzung wäre möglich, ist aber in dieser Situation nicht beabsichtigt. Diese Waffen bleiben bis heute unbenutzt und repräsentieren damit das Sinnbild einer eigentlichen Macht, die es nicht nötig hat, von ihren Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Allein die Andeutung einer Aktion, die im aktuellen westeuropäischen Kunstkontext nur noch rituelle Charakterzüge tragen kann, genügt. Eine eigenartige Potenz, die weder bedrohlich wirkt noch ihre Optionen wirklich nutzen muss.
Trägt die Werkbezeichnung Two Long Weapons without Armor den Charakter einer beschreibenden Feststellung, so deutet der Titel Plot of the Five Masquerades, 2008, vielmehr explizit einen Handlungsverlauf – den genannten plot – an. Fünf hölzerne Protagonisten lässt die Künstlerin hier auftreten. Eine Ähnlichkeit mit einfachen Wurfspeeren fällt schon auf den ersten Blick ins Auge. Alle Details dieser Waffengattung sind tatsächlich vorhanden: eine Spitze, ein Griffbereich und auch ein geschliffener Stein. Doch wurden die Materialien aus dem archaischen Kriegskontext hier genau im umgekehrten Sinne ihrer eigentlichen Bestimmung verwendet: Aus schwarzem Obsidiangestein ist keine Pfeilspitze entstanden, sondern ein glänzender, abgerundeter Griff. Auch die Holzspitze des Wurfgeschosses ist durch einen Wachsüberzug weicher geworden.
Offensichtlich hat vor dem Auftritt der fünf bereits eine umfassende Maskierung stattgefunden, die das sichtbare Material im Antagonisten seiner gewohnten Verwendung verkleidet. Vermutlich hat sich ein Teil des plots schon ereignet, bevor man als Betrachter die Szenerie betritt. Einige von den Stäben liegen jetzt auf dem Boden – gerade so, als hätte sie jemand inmitten einer kriegerischen Auseinandersetzung fallen gelassen. Spiel, Kampf oder ritualisierte Vorführung? Nicht nur die Installation der Hölzer verweist auf eine Erzählung in der Vergangenheit. Auch Materialien wie Obsidian erinnern an die Kriegs- und Jagdwerkzeuge der mittelamerikanischen Völker aus präkolumbischer Zeit. Das besonders harte Gestein vulkanischen Ursprungs wurde etwa von den Azteken für Pfeil- und Speerspitzen verwendet. Historiker nehmen an, dass der Speer als erstes Werkzeug eingesetzt wurde, um aus einer Distanz heraus töten zu können. Archäologische Funde belegen, dass vergleichbare Instrumentarien der Jagd und des Krieges schon vor über 200 000 Jahren nachweisbar sind.[2] Der distanzierende Charakter einer Waffe ersparte dem Menschen schon früh die Erfahrung, mit eigenen Händen und Zähnen töten zu müssen. Laut Schlussfolgerungen des Verhaltensforschers Konrad Lorenz sollte diese Erfindung schreckliche Konsequenzen mit sich bringen, konnten doch auf diese Weise die im Tierreich üblichen Schutzmechanismen gegen das Töten der eigenen Art leichter überwunden werden.[3]
Manchmal ist es schwer zu unterscheiden, ob man bei einer Arbeit von Ana Roldán einer tödlichen Waffe oder einer helfenden Stütze gegenübersteht. My favorite antagonist, 2008, vereinigt sowohl verletzende als auch umsorgende Eigenschaften in zwei seltsamen Gehhilfen. Auf der einen Seite mit eckigen Obsidiangriffen ausgestattet, münden die beiden Stöcke am anderen Ende in eine scharfe Spitze. Es wäre nicht unmöglich, dass beide Verhaltensweisen – verletzend und stützend – im selben Moment ausgeführt würden, wenn beide Wirkungen unterschiedliche Körper betreffen. Ein Lieblingsgegner wird sowohl geliebt als auch gehasst. Welches Verhalten daraus möglicherweise resultiert und mit welchem Werkzeug diese Handlung ausgeführt wird, ist bei Gebrauchsgegenständen des Alltags meistens eines klare Sache: Ein Messer wird zum Schneiden und Stechen benutzt, der Spazierstock als Gehhilfe. Doch was anfangen mit einem Ding, das beides verkörpert? Bevor mit dem Werkzeug tatsächlich ge-handelt wird, ist der Benutzungsmodus von einer Gelegenheit zur nächsten neu zu ver-handeln. In Formensprache und Material oft archaischen Lebensformen entlehnt, verhelfen Roldáns Arbeiten den Handlungsszenarien aus verschiedenen Zeiten und Kulturen zu einer gegenwärtigen Präsenz. Die vermeintlichen Fundstücke aus dem historischen Alltagsleben könnten auf diese Weise als Darsteller einer dramatischen Legende wieder auftreten.
Anmerkungen
[1] Übersetzung des Autors. Der Ausschnitt aus dem Fragebogen bildete die konzeptionelle Grundlage der Ausstellung What is Design? (1972). Zitiert nach Coles, Alex: Design and Art, Cambridge MA, 2007, S. 156
[2] Vgl. Cartmill, Matt: Das Bambi-Syndrom, Hamburg, 1995
[3] Zitiert nach: Ebd., S. 26–27