Erschienen in: Cat Tuong Nguyen, Underdog Suite, Scheidegger & Spiess, Zürich 2009.
In Cat Tuong Nguyens Collagen und räumlichen Ensembles finden ganz unterschiedliche Bildkulturen zusammen, etwa Bilder aus kulturhistorischer Literatur, Nachrichtenbilder und eigene Aufnahmen. Ausgangsmaterial aus fotografischen Beobachtungen, Inszenierungen im Atelier oder gefundene Abbildungen werden oft mit anderen Abbildungen und gefundenen Textfragmenten überklebt, manchmal auch mit Signalfarben wie Gold oder Rot übermalt. So tauchen unmittelbar neben Bildern rauchender Modellflugzeuge ein asiatischer Tempel und eine übermalte Reproduktion von Pieter Brueghels Der Turmbau zu Babel (1563) auf. Aus Collagen und Übermalungen entstandene Laserkopien haben sich in der Gruppenausstellung Speicher fast voll – Sammeln und Ordnen in der Gegenwartskunst im Kunstmuseum Solothurn (2008) zu einem raumgreifenden Bildspeicher entwickelt. Einige sind an den Wandflächen gruppiert, andere lagern in Glasvitrinen. Ob als Ausdruck an der Wand oder in grossformatigen Glaskästen mitten im Ausstellungsraum: Unterschiedliche Ausschnitte und Präsentationsformen eines Motivs existieren hier gleichzeitig in mehreren Abbildungsformaten nebeneinander. Mögliche Auswahl- und Bewertungsvorgänge ebenso wie verschiedene kontextuelle Zusammenhänge werden auf diese Weise vor dem Ausstellungsbesucher ausgebreitet. Trotz ihrer gläsernen Hülle geben die überdimensionierten Kästen nur einen sehr begrenzten Blick auf die gestapelten und in Holz gerahmten Laserdrucke frei. Und nur ein kleiner Teil der transparenten Schränke ist überhaupt belegt – für die noch aufzunehmenden Bilder der Zukunft wäre also noch viel Platz vorhanden. Obwohl Abbildungen aus verschiedenen Kulturen und ganz unterschiedlichen Zeiten zu Nguyens Bildspeicher gehören, wirkt hier jedoch kaum etwas historisch. Zu diesem Eindruck tragen nicht zuletzt der vielstufige mediale Verarbeitungsprozess des Künstlers und schliesslich auch das «provisorische» Layout der Installation bei. Der Ausstellungsraum ist in diesem Fall kein Ort definitiver zeitlicher Festlegungen oder permanenter materieller Existenzen, sondern vielmehr eine Übergangslösung. Und das durchaus im wörtlichen Sinne: Ein Platz, der einen Übergang vom Wirklichen zum Scheinbaren ermöglicht.
Der Philosoph Alexander Garcia Düttmann beschreibt den künstlerischen Transformationsprozess von körperlicher Anwesenheit zur scheinbaren Referenz eines Bildes so: «Man kann dann genauer sagen, was vom Körper bleibt: der Schein, das heisst, eine Schwelle, ein Übergang oder eine Geste.»[1]. Düttmann betrachtet die Möglichkeit, gleichsam auf dieser Schwelle zu verweilen, als eigentliche Fähigkeit der zeitgenössischen Kunst. Die künstlerische Arbeit von Cat Tuong Nguyen führt auf immer wieder neuen Wegen über jene Schwelle des Scheinbaren zwischen Tod und Leben, Ereignis und Inszenierung, Gesichtern und Masken. Und durch den fortwährenden Prozess des Abdeckens, Umkopierens und Gruppierens verwickelt Nguyen die glatte und makellose Erscheinung fotografischer Bilder gleichsam in ein Maskenspiel. Eine Aufführung, in denen Abbildungen und Textfragmente gleichermassen als Protagonisten und deren Maskierungen auftreten.
In der Collage (Ohne Titel, 2007) sind fotografische Porträts von lustvoller Ekstase und religiöser Entrücktheit versammelt. Fieberhaft glänzt ein weibliches Gesicht, weit geöffnet ist ihr Mund. Dank dem gezielten Einsatz von Make-up und Beleuchtung treten Augen, Mundpartie und Nase stark aus den wachsartigen Gesichtszügen hervor. Offensichtlich verhinderten hier die geschlossenen Lider der abgebildeten Person einen direkten Augenkontakt mit der Kamera-Optik. Fast könnten Zweifel am menschlichen Wesen der abgebildeten Person aufkommen, so sehr erweckt das auffällig behandelte Gesicht den Eindruck einer unbeweglichen Figur. Tatsächlich findet sich daneben die Abbildung einer Buddha-Maske in ähnlich versunkener Pose. Die Kopfpartie ist jedoch etwas nach unten geneigt, die steinernen Lippen fest geschlossen. Beide wenden den Blick vom Betrachter ab, als hätten sie sich hier zu einer stummen Versammlung der Abwesenden verabredet. Es fällt schwer, überhaupt noch zwischen Masken und Porträts zu unterscheiden – verweisen doch alle fotografischen Abbildungen hier auf das noch Sichtbare, aber bereits nicht mehr Anwesende. Schon im Altertum waren Masken als rituelle Vermittler zwischen dem Scheinbaren der Götterwelt und dem wirklich handelnden Menschenkörper beliebt. Im Altgriechischen ist sogar das Wort für «Gesicht» noch mit dem Ausdruck für «Maske» identisch[2]. So bedienten sich frühe Formen des Theaterspiels sowohl im antiken Griechenland als auch in Japan (z. B. das Nō-Theater) für Aufführungen gern bei einem festgelegten Repertoire von Masken, anstatt den Zuschauern ein Mienenspiel des Ausdrucks vorzuführen. Das Theater entlehnte auf diese Weise einen Teil seiner Ausstattung beim Maskenritual der Bestattungszeremonie und inszenierte damit vor dem anwesenden Publikum eine fiktive Zusammenkunft zwischen den Lebenden, den Toten und den Göttern. Jene vermittelnde Rolle des antiken Theaterszenarios greift Cat Tuong Nguyen in seinen Bühnenbildern wieder auf, die allerdings nicht für Schauspieler, sondern für fotografische Aufführungen im Ausstellungsraum bestimmt sind.
Der Ausstellungstitel Requiem für einen Hund (2007) benennt ein bereits im Jenseits angelangtes Tier als Hauptfigur von Nguyens Schau in der Zürcher Stiftung Binz39. Nach visuellen Hundespuren sucht man hier jedoch vergebens. Der anonyme Tote übernimmt vielmehr die Doppelrolle eines Abwesenden mit sprachlich zitierter Anwesenheitsmaske. Das wahrnehmungspsychologische Experiment zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit gipfelt schliesslich in den Lichterscheinungen verschiedener Explosionsszenarien, die der Künstler während des Arbeitsprozesses im Studio gezündet hat. Grossformatige Farbabzüge lassen noch erahnen, was sich bei diesem Arbeitsprozess im Atelier ereignet haben muss: Explosionen, Leuchtkörper und Brandstellen haben deutliche Spuren auf der Abbildung hinterlassen. Zwischen Fotolampen, Klappleitern und provisorischen Lattenkonstruktionen, die – jetzt nur noch stellenweise sichtbar – als Bildhalter für eine überbordende Fülle von schwarzweissen Laserdrucken dienten, zeichnen sich die unberechenbaren Lichtquellen nun kreuz und quer auf der Oberfläche der Farbfotografie ab. Einige Motive weisen durch ihre halbtransparente Abbildung sogar auf einen Verbrennungsprozess während der vermutlich sehr langen Belichtungszeit hin.
Während der existenzbedrohende Brandanschlag im Atelierraum sicher gelungen ist, muss man das Attentat auf der Bildebene allerdings als misslungen qualifizieren. In der halbtransparenten Erscheinung hat die Fotografie zwar die Vernichtung eines anderen Bilds im Atelier des Künstlers aufgezeichnet, schreibt aber gleichzeitig auch den Zustand vor dem grossen Brand ins lichtempfindliche Trägermaterial ein. Innerhalb einer einzigen Aufnahme werden auf diese Weise sowohl die An- als auch Abwesenheit fotografischer Darstellungen sichtbar. Durch die Aufzeichnungsarbeit der langen Belichtungszeit ist das fotografische Porträt an der Bildoberfläche nie ganz verschwunden. Damit übernimmt die Fotografie die Eigenschaften einer Totenmaske, die in verschiedenen historischen Kulturen den Übergang (meist besonders bedeutender) Personen zwischen Leben und Tod begleitete. Das Gesicht des Toten wurde dabei zu einer Maske reproduziert. So behandelte man etwa das wächserne Abbild der französischen Könige eine bestimmte Zeit lang nach dem Ableben wie den König selbst: Bis zu sieben Tage nach dem Tod wurde die Maske des Monarchen in einem Bett gepflegt und von Dienern und Ärzten umsorgt, die sich so verhielten, als ob sie dessen Puls fühlten und andere Tätigkeiten an dem leblosen Abdruck verrichten würden. Die Maske spielte hier keine Rolle als Stellvertreter, sondern sie repräsentierte gleichsam den Souverän selbst.[3] Nicht zufällig löste das blühende Genre der Post-Mortem-Fotografie im 19. Jahrhundert vielerorts das Totenmasken-Ritual ab.[4] Schliesslich kann das Sterben als letzter sichtbarer Transformationsprozess des menschlichen Körpers gelten. Und was lag da näher, als dieses sagenhafte Ereignis mit Hilfe eines Mediums aufzunehmen, das gerade für seine besonderen abbildenden Qualitäten bekannt geworden war. Tote sind in den Explosionsszenarien von Cat Tuong Nguyen zwar nicht zu entdecken, jedoch lassen die rauchverhüllten Unfallszenarien aus Strassen- und Luftverkehr in Death Resort (2005) auch auf mögliche Todesopfer schliessen. Die Farbfotografie zeigt Flugzeuge beim Durchbrechen einer rohen Sperrholzwand, die den notdürftig zusammengesetzten Fluchtpunkt eines spiegelnden Bodens bildet. Auf der glatten Fläche hat es einige Geländewagen schwer erwischt, manche sind sogar in umgedrehter Position zum Stillstand gekommen. Die Porträts von Trauernden wurden an die Sperrholzwand geheftet. Einige davon stammen vermutlich aus Pressequellen und verweisen allein durch harte Blitzlichter und schwarzweisse Tonwerte auf einen möglichen dokumentarischen Charakter. Andere Motive blenden den Betrachter geradezu durch ihre grelle Farbigkeit und sind wahrscheinlich in der professionellen Katastrophenbildindustrie entstanden. Nur eine Modefotografie beeindruckt in diesem Ensemble durch ihren ungetrübten Optimismus: Vor Meereskulisse schreitet eine vollbusige Blonde im Sommerkleid mit tiefem Ausschnitt auf den Betrachter zu.
Doch wo bleiben eigentlich die Toten? In unmittelbarer Umgebung des Unfallortes ist nichts zu entdecken. Sind wir etwa zu spät zur Katastrophen-Aufführung gekommen? Vielleicht. Nguyen zeigt hier nicht die Toten, sondern führt den visuellen Effekt von Katastrophen-Szenarien mit den medial beobachteten Betroffenen vor. Natürlich ist dies alles offensichtlich konstruiert und der Künstler gibt sich mit dem illusionistischen Effekt seiner Bühnen auch gar keine grosse Mühe. So wurde etwa der Bildausschnitt so gewählt, dass man über die Bühnenbilder hinausblicken kann. Dort bemerkt man den Rohbau-Charakter von grob montierten Bühnenteilen und registriert ernüchtert den eigentlichen Ort der Katastrophe: das Atelier. Und doch lässt sich die Verknüpfung mit verheerenden Nachrichtenbildern nicht ganz auflösen. Trotz der halbwegs beruhigenden Schlussfolgerungen zur Entstehung dieser Motive ist hier das Bild einer Katastrophe vor dem Betrachter ausgebreitet. Zu sehr erinnert das Bühnenbild Nguyens letztlich auch an die Nachrichtenbilder der terroristischen Angriffe auf New York im Jahre 2001. Es ist schon sehr erstaunlich, das Fotografie sich trotz inflationärer Verbreitung und sichtbarer Manipulation offenbar bis heute nicht so ganz von ihrem Referenten lösen lässt. Der fotografische Abdruck repräsentiert auf diese Weise weniger die Nachricht von einem Ereignis als vielmehr das Ereignis selbst. Die künstlerische Zweitverwertung von Nachrichten- und Werbebildern oder ethnologischen Publikationen übernimmt in dieser Lesart die Funktion einer Totenmaske vergangener Ereignisse.
Anmerkungen
[1] Düttmann, Alexander Garcia: Der Schein, in: Inaesthetik Nr. 0 , Zürich-Berlin, 2008, S. 152.
[2] Belting, Hans: Das Echte Bild, C. H. Beck Verlag, München, 2005, S. 74.
[3] Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, 1957, Ausgabe dtv, 1990, S. 422 f.
[4] Réunion des Musées Nationaux (Ed.), Le dernier portrait, Paris, 2002.