Erschienen in: frieze d/e, Sommer 2011, London/Berlin.
Zwischen Ende der 1970er bis Ende der 80er Jahre fotografierte Mark Morrisroe sich selbst und seinen Freundeskreis um Nan Goldin, David Armstrong und Jack Pierson in zahlreichen Porträts und Aktaufnahmen. Im Unterschied zu Goldin steht aber nicht der emotionale Moment einer intimen Beziehungssituation im Vordergrund, sondern Fotografie als die posierte „Visitenkarte“ einer Person. Und das durchaus im wörtlichen Sinne: Ein Selbstporträt, mit dem der 25-jährige auf Sexanzeigen antwortet, verweist auf seinen Einstieg in die Prostitution als 16-jähriger „Mark Dirt“ (Little Me as a Child Prostitute, Klein-Ich als Kinderprostituierter, 1984). Auf der leicht unscharfen Polaroid-Reproduktion posiert ein junger Mann mit weit geöffneten Schenkeln und halb erigiertem Glied. Auf dem Rand sind Kratzer und anderen Bearbeitungsspuren zu sehen, die wahrscheinlich durch das Kopierverfahren mit übereinander gelegtem Schwarzweiss- und Farbnegativ entstanden sind; zudem hat Morrisroe dort neben einigen farbigen Strichen die Arbeit signiert, sowie Titel und Datum notiert.
Die meisten Morrisroe-Porträts folgen dieser „Visitenkarten“-Logik der idealisierenden Pose. Seine Vorliebe für vorhandenes Licht, Unschärfen, stark sichtbares Korn und zurückhaltende, fast monochrome Farbgebung erinnert an Fotografien des späten 19. Jahrhunderts. Auch wenn die Bildränder mit ihren Kratzern, Notizen und grafischen Elementen die weichgezeichnete Idealisierung etwas stören, wirken Morrisroes Protagonisten wie Filmstars aus den 1960er Jahren, die zwar in lasziven Posen, aber von einem romantischem Setting umgeben, mit der Kamera flirten.
Nur in wenigen Motiven lässt die Repräsentation des Körpers als Währung und Ware die damit verbundenen Widersprüche und Konflikte offen zutage treten. Dazu zählen neben einigen wenigen Selbstbildnissen, die ab 1987 den von AIDS immer stärker geschwächten Morrisroe zeigen, die späten Fotogramm-Arbeiten (1985–1988). In diesen entwickeln sich die Widersprüche der idealisierenden Posen zu einer expliziten Auseinandersetzung mit den pathologischen Spuren und medialen Abziehbildern des Körpers: eigene Röntgenbilder, Arzneimittelflaschen und Pornomagazine in Neonfarben landen auf Morrisroes „Operationstisch“ in der Dunkelkammer seines Krankenhauses.
Neben diesen Fotogrammen und einigen Collagen sind Morrisroes Filme – die leider nur auf einem Monitor im Museumfoyer gezeigt wurden – der einzige Ort, wo die Folgen von Prostitution und permanenter Selbstdarstellung diskutiert werden: bis hin zur Verleugnung oder sogar gewalttätigen Auslöschung menschlicher Identität. Laziest Girl in Town (1981) endet als schrille Drag-Komödie mit den permanenten Showeinlagen der drei Darsteller schließlich in einer Vergewaltigung. Immer wenn Morrisroe mit den Konsequenzen und Widersprüchen seiner Körpervermarktung experimentiert, wird es auch für die Gegenwart interessant. Das lässt zum Beispiel auch an die queere Copy&Paste-Ästhetik von zeitgenössischen Künstlern wie Kalup Linzy oder Ryan Trecartin denken. Nur leider treten solche Bezüge zur Gegenwart nur an wenigen Punkten der Retrospektive hervor. Stattdessen ist sie auf die langen Reihen posierender Selbstdarsteller in Morrisroes Werk konzentriert. Das wirkt angesichts der heute omnipräsenten Selbstdarstellungs- und Enthüllungskultur etwas redundant. Allerdings ist die Publikation zum Nachlass mit der sorgfältigen und gleichwertigen Aufarbeitung aller Werkteile uneingeschränkt zu empfehlen. Dort können Fotogramme, Collagen und gefundene Bilder als integraler Bestandteil des Werks gelesen werden, anstatt neben plakativen Posen nur als Randerscheinung aufzutauchen.
Mark Morrisroe, Fotomuseum Winterthur, Schweiz, 27.11.2010-13.2.2011.