Erschienen in: Michael van Ofen, Distanz-Verlag, Berlin 2011.
Einige Abschiedsszenen des österreichischen Biedermeier-Malers Ferdinand Georg Waldmüller bilden den Ausgangspunkt für vier Arbeiten von Michael van Ofen, die zwischen 1993 und 1997 entstanden sind. Abschied der Braut (1993) lässt aus einer gewissen Entfernung die Konstruktion eines Innenraumes zwar erahnen, aber es bleibt durch den relativ grossflächigen Farbauftrag auch bei dieser Andeutung. Die Frage, von wem oder was sich die Braut eigentlich verabschiedet, bleibt hier unbeantwortet. Auch Details sozialer Verhältnisse und räumlicher Gegebenheiten verschwinden aus dem Blickwinkel des Betrachters. Zwei perspektivisch gedehnte Bildpartien bilden eine helle, fensterähnliche Begrenzung des Innenraumes. Ein Helligkeitsverlauf erweckt den Anschein einfallenden Lichtes. Einzig die starke Betonung von Kontrast und Kontur erlaubt eine gewisse Differenzierung der räumlichen Wahrnehmung. Möbel oder andere Ausstattungsdetails sind in diesem zweidimensionalen Gerüst allerdings nicht abgebildet, ganz abgesehen von der erwähnten Braut. Wenn hier Einzelheiten zu entdecken sind, dann im Verlauf der auffallend breiten Pinselspuren. In der unteren Bildhälfte wechseln die Konturen verschiedener Malbewegungen häufig ihre Richtung. Haben diese malerischen Gesten ihre Existenz zunächst ganz einfach der körperlichen Aktivität des Künstlers zu verdanken, deuten sie darüber hinaus die schemenhaften Bewegungen einer vorgestellten Figurengruppe an.
Trotz starker Ablösungstendenzen von Figur und Detail bleibt der Ausgangspunkt im neunzehnten Jahrhundert durch Bildtitel und Lichtführung noch identifizierbar. Die Abschiedsszene ist noch nicht vorüber, der Ort der Herkunft scheint noch greifbar nahe. Allerdings lässt die Praxis der Nass-in-Nass-Ölmalerei keine Zwischenschritte einer künstlerischen Auseinandersetzung mehr erkennen, sondern die sichtbare Ebene markiert auch eine gewisse Endgültigkeit des Produktionsprozesses: Es ist so, wie die obere Farbschicht bezeugt. Und trotzdem gelingt es van Ofen, gleichsam eine Situation zwischen seinen historischen Bezugspunkten in der Genremalerei und Einflüssen konzeptueller Kunst herzustellen. Dabei entsteht auch der Eindruck einer gewissen Unabgeschlossenheit, die eine bemerkenswerte Distanz zu dem „Es-ist-so“ der Malerei formuliert – trotz medialer Treue zum Vorbild. Auch in späteren Arbeiten wird van Ofen diesen geradezu Brechtschen Verfremdungseffekt, der gleichzeitig Distanz zu einem möglichen Motiv und so etwas wie Nähe zur malerischen Geste schafft, bis an die Grenze des Vorstellbaren führen. Man kann das einen „konzeptuellen Ansatz“[1] nennen, aber van Ofen ist nicht ein Konzeptkünstler, der auch malt, sondern er arbeitet seit fast dreissig Jahren ausschliesslich mit Leinwand, Ölfarbe und Pinsel. Kurz nach seiner ersten Soloausstellung 1981 wechselte van Ofen von einer konzeptuellen und medial offenen Arbeitsweise in den begrenzten Bildraum der Malerei. Auf die Frage, ob er sich selbst als Maler bezeichnen würde, antwortet der Künstler heute trotzdem mit „Nein“. Und zwar aus zwei Gründen: Erstens habe er damals mit Malerei gerade aus einem bestimmten Gefühl des Befremdens heraus angefangen. Und zweitens würde er seine Ergebnisse nicht als Malerei im eigentlichen Sinne bezeichnen, sondern als einen bildähnlichen Schlüsselreiz für eine Auseinandersetzung mit der Geschichte künstlerischer Repräsentation politischer Macht. Das klingt zunächst nach Koketterie gegenüber einer Abbildungsgeschichte europäischer Malerei. Vielleicht handelt es sich aber auch um eine pointierte Distanznahme von der Abbildungsqualität vormoderner Fundstücke und zugleich von einer Kategorisierung im Sinne kunsthistorischer Gattungen. Deutlich sichtbare Bewegungen im Farbauftrag und die schemenhaften Umrisse mehr oder weniger bekannter Sujets provozieren gerade wegen ihres gestischen Ausdrucks so etwas wie einen figurativen Schlüsselreiz.
Abschied heisst andererseits auch, dass der Kontakt zwischen der Braut und ihrer Vergangenheit noch nicht abgerissen ist. Zwar ist die Absicht zur Trennung bereits formuliert, aber im Vorgang des Abschieds noch nicht abgeschlossen. 1997 geht van Ofen mit einer Arbeit unter demselben Titel wieder von einem Waldmüller-Motiv aus, diesmal ist es allerdings eine Aussenszene. Abschied der Braut deutet dies auch durch eine diagonale Lichtführung von hellen, kühlen Farbtönen zu dunkleren, wärmeren Tonwerten an. Ebenso wie die frühere Arbeit gleichen Titels weicht die Farbskala kaum von verschiedenen Graunuancen ab. Nur wird hier – abgesehen vom Helligkeitsverlauf – keine räumliche Geometrie mehr angedeutet. Selbst rudimentäre Umrisse sind nicht zu entdecken. Durch den grosszügigen, vertikal orientierten Farbauftrag in der Bildmitte, dessen Aktionsradius ungefähr einer Unterarmbewegung entspricht, entfaltet sich hier eine gestische Dynamik. Mit den angedeuteten Landschaften, Interieurs und Figuren tauchen auch die Namen vormoderner Genrebilder wieder auf, die in ihrer Zeit zwar zu den grossen Publikumslieblingen zählten, aber heute ein weitgehend unbeachtetes Dasein in Depots, Kalenderblättern und Sammlungspublikationen fristen. Offenbar gehören jene modernen Entwicklungen, die mit Impressionismus und Abstraktionstendenzen in der Malerei des 19. Jahrhunderts begannen und so oft als Vorläufer einer gegenwärtigen Bildkultur zitiert werden, nicht zu den bevorzugten Anknüpfungspunkten von Van Ofen.
Durch bahnbrechende Entwicklungen technischer Medien wie Fotografie und Film und einer materiellen Kultur arbeitsteiliger Industrieproduktion verabschiedet sich Kunst – und Malerei im Besonderen – ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zunehmend von ihrer Rolle als visuelles Leit- und Massenmedium in Europa. Aus sakralen und feudalen Repräsentations-zusammenhängen weitgehend gelöst, werden künstlerische Arbeiten nun in neugegründeten Vereinen von wohlhabenden Bürgern ausgestellt und gehandelt. Die ersten öffentlichen Museen öffnen ihre Türen für ein bildungsbeflissenes Publikum, um im Nachhall der Aufklärung ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt zu leisten. Spätestens mit der französischen Revolution beginnt in Europa ein jahrzehntelanger Abschied von feudaler Kultur. Und gerade die klassizistische Malerei sieht sich in jenen Jahren um 1789 an der Spitze dieser gesellschaftlichen Veränderungen. Jacques-Louis Davids Schwur der Horatier (1785) dient als eines der wenigen prominenten Vorbilder für van Ofens Arbeit. Noch im Auftrag des französischen Königshauses geschaffen (wobei der zuständige Minister nur ein Format vorgab), galt das Gemälde wenig später schon als Ikone der bürgerlichen Revolution. Drei junge Männer in kriegerischen Gewändern und Helmen strecken ihre Hände einem bärtigen älteren Mann entgegen, der seinerseits drei Schwerter empor hebt. Im Hintergrund zeichnet sich ein Säulengang ab, einige weibliche Figuren kümmern sich im Halbschatten um die Kinder. Nach der Interpretation des zeitgenössischen Publikums, das mit dem antiken Stoff der Horatier-Legende u.a. durch Literatur und Oper[2] vertraut war, schworen die drei Söhne hier gerade ihre patriotische Bereitschaft zur Verteidigung der Vorherrschaft Roms. Mit den modellierenden Lichtverhältnissen und der Betonung körperlicher Anspannung entwickelte David eine Präsenz der Gesten und Bewegungen, die fast skulpturale Qualitäten erreichte. Im Rückblick erscheint der Schwur der Horatier als Wendepunkt einer körperlichen Ästhetik in der französischen Malerei[3] und als Sinnbild einer klassischen Kunstauffassung, die sich vor allem für antike Vorbilder interessierte. „Die Klassik ist eine sachliche Kunst“, aber gleichzeitig besitzen alle „Ausdrucksfunktionen eine unerwartete Steigerung“[4], schrieb Heinrich Wölfflin über „die klassischer Figurensilhouette“, den „Nachdruck der Zeichnung“, und die „Melodie des Umrisses“[5]. Eine Kunst der geschärften Umrisse und Kontraste betont in besonderer Weise Handlungen, Bewegungen und Gesten. Als Figuren treten darin tätige und aufgeklärte Menschen auf. Kollektiv wird über Handlungsorientierungen diskutiert und entschieden, es gibt keine Partikularinteressen, nur am gemeinsamen Finden der Wahrheit Interessierte[6]. Klassizismus und Aufklärung treffen sich hier im Projekt einer neuen Gesellschaft durch ästhetische Erziehung. Auch Jacques-Louis David engagierte sich nach der französischen Julirevolution von 1789 persönlich eine Zeit lang in der Politik des neuen Staatswesens.
Kein patriotischer Schwur dient hingegen van Ofens Horatiern aus dem Jahre … mehr einer malerisch unterstützten Legendenbildung: Bereits auf der Titelebene entfernt sich die Arbeit von der Semantik ihrer über 200-jährigen Vorlage. Es findet sich nur noch ein schlichter Hinweis auf das römische Geschlecht. Mit gewohnt breitem Farbauftrag und stark betonter Linienführung lehnt sich die Bildsprache vor allem an die Choreographie der Figurenbewegungen bei Davids Gemälde an. Die körperliche Anspannung handelnder Horatier überführt van Ofen hier in Gesten malerischer Aktivität. Im Fluchtpunkt empor gestreckter Hände und Schwerter treffen sich nun Bewegungen im Farbauftrag. Die im Seitenlicht aufscheinenden Konturen setzen sich mit leuchtenden Rot-, Weiss- und Ockertönen gegen die dunkle Andeutung eines Säulenganges im Hintergrund ab. Im Gegensatz zu den klaren und grosszügigen Umrissen des Vordergrundes entsteht dieser räumliche Effekt vor allem durch häufige Unterbrechungen und Richtungswechsel der Malbewegung in den dunkleren Partien. Details der von David so akribisch hervorgehobenen Physiognomie sind dagegen nicht erkenntlich. Stattdessen betont van Ofen das visuelle Prinzip einer historisch-politischen Repräsentation und übernimmt dabei die heraldische Analogie leuchtend roter Gewänder von David, die dort verwandte Mitglieder einer Gemeinschaft signalisieren, deren individuelles Bekenntnis zur Zusammengehörigkeit in einer spontanen Gemütsregung stilisiert wird.
Vor dem Hintergrund historischer Höhepunkte einer bürgerlichen Repräsentationsgeschichte der Malerei führt der Künstler tatsächlich einen Abschied im doppelten Sinne vor: Einmal von den Stilen vormoderner Genremalerei und zum anderen auch von einem medial völlig offenen „general object“[7] der Konzeptkunst. Rosalind Krauss schreibt 1999 über dieses „postmediale Objekt“: „[…] in flowing through the channels of commodity distribution it would not only adopt any form it needed but it would, by a kind of homeopathic defense, escape of the effects of the market itself.“ Was Krauss am Beispiel von Marcel Broodthaers` medial diversen Arbeiten als Verteidigung gegen die Warenlogik des Kunstmarkts anführt, sollte den Diskurs über Kunst bis heute massgeblich beeinflussen. Damit ist keine neue Gattung im medialen Sinne entstanden (obwohl der Look konzeptueller Kunst heute vor allem mit Sprache und Fotografie in Verbindung gebracht wird), sondern eine ständige Auseinandersetzung mit der Frage, ob und unter welchen Bedingungen Kunst überhaupt möglich und denkbar sei. Gerade jenes Feld, was als Malerei bezeichnet wird, hat sich unter den Einflüssen konzeptueller Praxis seit den 1970er Jahren schon mehrmals neu erfunden. Eine besondere Rolle spielten dabei die bevorzugten Distanzierungsmedien Fotografie und Sprache, um sich von einer körperlichen Unmittelbarkeit auf die Metaebene des konzeptuellen Diskurses zu bewegen. Gleichsam als wirkungsvolle semantische Tricks dienten dabei auch die ironisch pointierten Bildtitel, mit deren Hilfe etwa die deutschen Neo-Expressionisten der 70er und 80er Jahre eine Wiederauferstehung der Malerei erprobten. Als Beispiel könnte man in diesem Zusammenhang an Martin Kippenbergers Werkkomplex Ohne Titel (Lieber Maler, male mir) von 1981 denken.
Soweit hinein in das Gebiet der ironischen Pointen hat sich van Ofens Titelwahl nie bewegt. Im Gegenteil: Horatier verweigert zwar die erzählerische Auskunft über die Art der malerisch angedeuteten Handlung, aber bezeichnet immer noch ein sagenumwobenes Patriziergeschlecht aus der Geschichte Roms. Die Konvention eines historischen Genretitels wird hier zwar bis zu einem gewissen Punkt weiter geführt, bezeichnet jedoch nur noch den Ausgangspunkt für einen Betrachtungsvorgang: die in irgendeinem Katalog vorgefundene Reproduktion des malerischen Motivs aus dem achtzehnten Jahrhundert. Bereits zwischen Titelebene und Bildwahrnehmung entfaltet sich eine Spannung, die auf etwas verweist, das sowohl jenseits der Erzählung einer Situation als auch jenseits der ironischen Pointe liegt. Dort spannt sich zwischen malerischer Praxis, ihren Vorbildern und dem Darüber-Sprechen eine immer grössere Distanz auf, die sich inzwischen zum Paradigma des Werkes entwickelt hat. Im Kontext der Geschichte gesellschaftlicher und politischer Repräsentation bleibt da viel Platz für eine unabgeschlossene Auffassung von Malerei, die auch das Publikum zur Teilnahme an der Produktion des Werkes auffordert. Dass dieser Zwischenraum überhaupt denkbar wird, ist einerseits der fast schon schematisch auf Lichtführung und Farbauftrag reduzierten Malweise zu verdanken, die andererseits auch Diskontinuitäten eines potentiell unabgeschlossenen Bildproduktions- und wahrnehmungsprozesses andeutet.
Jenes Unfertige – ja sogar die Frage, ob ein Werk überhaupt entstanden ist – zählt mittlerweile zum Standard-Repertoire der Konzeptkunst-Rezeption. Mit der Wiederentdeckung bestimmter konzeptueller Strömungen ist in den vergangenen Jahren auch der Begriff des romantischen Konzeptualismus geprägt worden[8]. So zeichnet Jan Verwoert in der gleichnamigen Publikation eine historische Parallele zwischen den radikal «unfertigen» Werken der konzeptuellen Kunst nach 1960 und der Bevorzugung des Fragments durch Autoren der frühen Romantik um 1800 nach. Beide Bewegungen versteht der Autor als Erschöpfungssymptom der Aufklärung und als künstlerische Abgrenzungsversuche gegenüber Werken des Modernismus im zwanzigsten Jahrhundert oder den „absolut vollendeten Werken“[9] der klassischen Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert. „Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja, das ist ihr eigentliches Wesen, dass sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. […] Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als eine Art und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein.“[10] Man kann diese Sicht der romantischen Dichtung zunächst der Zeitgenossenschaft der Autoren zuschreiben, die jenes Manifest in der Zeitschrift „Athenäum“ Ende des achtzehnten Jahrhunderts publizierten. Einem Wahrheits- und Sinndefizit in Kunst und Gesellschaft begegnen sie jedoch nicht mit klassischer Vollkommenheit, sondern romantischer Unabgeschlossenheit. Offensichtlich favorisieren sie generell einen Prozess des „Werdens“ und das Fragment gegenüber den perfekten, „toten“ Vorbildern der klassischen Aufklärung. Und nicht zuletzt der Gedanke, die Autorenschaft auf das Publikum auszuweiten und damit „Ideenketten“[11] auszulösen, lässt an eine geistige Verwandtschaft zwischen romantischer und konzeptueller Kunstauffassung denken. Die Reduktion auf Ideenfragmente und Unvollendetes bedeutet auch eine Aufforderung zur Koproduktion an das Publikum. Die Frage, inwieweit diese Art der Teilnahme tatsächlich stattfindet oder bereits im Moment ihrer Formulierung nur als sprachliche Figur gemeint war, müsste im einzelnen Fall untersucht werden. Auf jeden Fall sind die künstlerischen Forderungen der Romantik um 1800 und der Konzeptkunst um 1970 in fundamentale gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen eingebunden. Im ersten Fall entwickelt sich eine europäisch-bürgerliche Ökonomie in bisher nie gekanntem Ausmass – mit öffentlichen Museen und den Kunstvereinen auch in kultureller Hinsicht. Um 1970 wird konzeptuelle Kunst (besonders was die New-Yorker Szene betrifft) neben Bürgerrechtsbewegungen und einer visuellen Kultur wahrgenommen, die vor allem von Pop, Werbung und Public-Relations-Sprache bestimmt wird. Und ganz im Gegensatz zu dem von Krauss beschriebenen „Escape-Effekt“ führten diese Entwicklungen nicht zu einer grösseren Unabhängigkeit der konzeptuellen Kunst gegenüber institutionellen und ökonomischen Vertriebswegen, sondern vielmehr zu deren vollständiger Assimilation.
Zwar nimmt die 1997 unter dem Titel Abschied der Braut entstandene Arbeit kaum noch eine Abbildungsfunktion wahr, jedoch macht das Werk keinesfalls einen unvollkommenen, fragmentarischen Eindruck. Allerdings könnte man dies bei Kopfstudie (2008), die in einer ganzen Reihe ähnlicher Studien entstanden ist, durchaus behaupten. Vor beigem Hintergrund heben sich die Umrisse eines Kopfes in dunklen Grautönen ab. Es ist ein ungewöhnliches Porträt: Die vermutlichen Gesichtszüge verlieren sich ebenso im dunkel-sandigen Farbauftrag wie die potentielle Umgebung. Allein an der Stelle, wo man sich für gewöhnlich eine Frisur vorstellt, entsteht durch den fein gegliederten, durchscheinenden Strich des aus Borsten gefertigten Pinsels der Eindruck eines sauber gekämmten Seitenscheitels. In der eigentümlichen Analogie zwischen dargestelltem Haar und dem haarigen Werkzeug der künstlerischen Produktion kommt dies einer figürlichen Darstellung schon sehr nahe. Allerdings sind gerade die Konturen der kopfähnlichen Form an vielen Stellen nur sehr unscharf von den sandigen Nuancen des Hintergrundes abgegrenzt. Helle und bläulich-kühle Grautöne bilden seitlich der Kopf-Kontur einen imaginären Hintergrund. Die Weisshöhung überlagert jedoch teilweise die dunkelgrauen Konturen des Kopfes. Der Farbauftrag zeugt vom Gebrauch eines groben Werkzeugs. Auch der bescheidene Titel Kopfstudie bezeichnet einfach einen künstlerischen Versuch, dessen Ausgang zwar ungewiss ist, der aber trotzdem von einem konkreten Motiv ausgeht.
Der Künstler hat sich in vielen jüngeren Arbeiten zwar von expliziten historischen Bezügen verabschiedet, bleibt jedoch bei einer paradigmatischen Referenz an das Genre des Portraits. Die Art, wie man sich als Auftraggeber in einem künstlerischen Medium darstellen liess, wendete sich als repräsentative Geste an ein potentielles Publikum. Auch das Bürgertum liess sich als Ahnengalerie musealisieren. Kurz bevor technische Bilderzeugungsverfahren gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Portraitproduktion für Familienalben übernahmen, erlebte die repräsentierende Genremalerei ihre vermutlich letzte grosse Blütezeit. Das hätte man vielleicht bis Ende der 1980er Jahre im Rückblick auch so zusammenfassen können. Seit Anfang der 1990er Jahre positionieren jedoch Künstlerinnen wie Elizabeth Peyton das Genre des Portraits wieder in der Gegenwart. Allerdings mit einem grossen Unterschied zu früheren Jahrhunderten: Statt einen repräsentativen Auftrag zu erfüllen, geht es bei Peyton vielmehr um ihre eigene Sicht auf die Posen ihrer (meist berühmten) Freunde aus der Kunstszene oder Stars aus Kultur und Politik. Es handelt sich also eher um die Perspektive eines malerisch sehr elaborierten Fans auf die verehrten Vorbilder. Auch die Wiederkehr der Historienmalerei in Gestalt von Neo Rauchs grossformatigen Reisen durch die jüngere Zeitgeschichte knüpft in ihren Abbildungsqualitäten und Figurendarstellungen an frühere Interpretationen dieses Themenfeldes aus dem neunzehnten Jahrhundert an. Nun stellen beide Positionen die abbildende und damit auch re-präsentierende Funktion der Malerei ebenso wenig in Frage wie den Status ihres Herstellungsprozesses. Im Gegenteil: Durch die Präsenz bekannter Persönlichkeiten, geschichtlicher Mythen und nicht zuletzt mit der Verwendung einer besonders glänzenden Oberflächenlasur bei Peyton wird diese Wirkung noch verstärkt.
Im Allgemeinen scheint van Ofen ein distanziertes Verhältnis zur Geschichte der Malerei, ihren Motiven und dem eigenen Produkt zu pflegen. Gleichzeitig hebt er die Handlung des Farbe-Auftragens stark hervor. Die Choreographie physiologischer Anspannung zeichnet sich im Gegensatz zu seinen Vorbildern jedoch nicht an den Körpern dargestellter Figuren ab, sondern wird von einer Spur der Bildentstehung strukturiert. Die Arbeitsweise des Künstlers zwischen Abbildungscharakter, einer bestimmten Unabgeschlossenheit und selbstbefragender Produktionsspur kann man als konzeptuell bezeichnen. Aber gibt überhaupt so etwas wie konzeptuelle Malerei? Zu sehr erscheinen ihre Produktions- und Objekteigenschaften als Antithese zum von Krauss erwähnten „general object“. Vielleicht hat der konzeptuelle Diskurs über Jahrzehnte hinweg alle anderen ehemaligen Gattungen der Kunst so stark beeinflusst, dass sich diese medienspezifische Frage heute auch nicht mehr auf diese Weise stellen lässt. Nachdem konzeptuelle Kunst der 60er und 70er Jahre eine radikale Trennung von bestimmten Konventionen postuliert hatte und die beissende Ironie des Neo-Expresssionismus der 80er Jahre sich noch einmal auf Kosten einer längst tot gesagten Gattung amüsierte, wirkt van Ofens Arbeit trotz aller Abschiedsszenen doch involviert: Schemenhaft tauchen dort repräsentative Motive aus der Gründungszeit bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaftsordnungen in Europa immer wieder auf: „Subjekt, Arbeit, Geschichte und Fortschritt“[12]. Der Umgang des Künstlers mit den Werkzeugen und Materialien der Malerei ist ein nicht beendeter Abschied von vorhandenen Bildern, der trotz aller Distanz die Präsenz einer Körperbewegung in Erinnerung ruft. Die Spuren körperlicher Arbeit, ein Subjekt und die Geschichte lassen die künstlerische Arbeit van Ofens offensichtlich nicht los und erinnern auf diese Weise an die Bruchstelle modernen Denkens und ihrer mit „post-“ beginnenden Nachfolger. Nach den zahlreichen Toden der Gattung und ihrer dargestellten Figuren in den vergangenen beiden Jahrhunderten hat die Malerei schon längst ihre unangefochtene Stellung als Repräsentationsmedium eingebüsst. Auch wenn die malerische Praxis sich wieder einer grösseren Beliebtheit erfreut und inzwischen als konzeptionelle Geste von der Kritik akzeptiert wird, sieht die heutige Lage nicht mehr nach einer selbstverständlichen Legitimation aus. Im Gegenteil: Malerei wird als künstlerische Praxis unter vielen anderen mit den fundamentalen Fragezeichen konzeptueller Kunst wahrgenommen, ist aber auf der anderen Seite auf eine medienspezifische Betrachtung vor ihrem eigenen Hintergrund angewiesen. Van Ofens Arbeiten lösen dieses Dilemma weder in einem alten oder neuen Genre malerischer Produktion auf, noch verlieren sich die Spuren ihrer Entstehungsgeschichte in den multimedialen Kanälen einer kulturindustriellen „commodity distribution“.
Anmerkungen
[1] Hoffmann, Jens: Was Malerei und nur Malerei kann, in: Van Ofen, Berlin 2009. S. 10
[2] u.a. durch Pierre Corneilles Bühnenstück Horace (1640 uraufgeführt) und Antonio Salieris Oper Les Horaces (1786 uraufgeführt)
[3] Johnson, Dorothy: Jacques-Louis David, Art in Metamorphosis, Princeton 1993, S.14: „David imposed on French painting a new aesthetic of the body, in which the configuration of the entire human figure radiated meaning and served as the locus of expressivity and communication. […]extraordinary filiations exist between Diderots theories of gesture and Davids gestural inventions in The Oath…“
[4] Wölfflin, Heinrich: Die Schönheit des Klassischen, in: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Dresden 1983, S. 352-353
[5] Ebd. S. 355
[6] Bürger, Peter: Zur Kritik der idealistischen Ästhetik, Frankfurt 1990 [1983]), S. 31ff.
[7] Krauss, Rosalind: A Voyage on the North Sea: Art in the Age of the Postmedium-condition, London 1999, S.11
[8] Die gleichnamige Ausstellung wurde von Jörg Heiser 2007 in der Kunsthalle Nürnberg und der BAWAG Foundation Wien kuratiert.
[9] Verwoert, Jan: Impuls Konzept Konzept Impuls, in: Romantischer Konzeptualismus, Bielefeld/Leipzig, 2007, S. 47
[10] Schlegel, Friedrich; Schlegel, August Wilhelm; Novalis; Schleiermacher, Friedrich: Fragmente, in: Heinrich, Gerda (Hrsg.), Athenäum, Fragmente einer Zeitschrift, Leipzig, 1984, S. 75-76. Die Zeitschrift Athenäum erschien zwischen 1798 und 1799.
[11] Sol Le Witt erwähnt dieses Wort in seinen Sätzen über konzeptuelle Kunst, bei Novalis finden wir die Aussage: „Der wahre Leser muss der erweiterte Autor seyn.“, zitiert nach: Verwoert, Jan: Impuls Konzept Konzept Impuls, in: Romantischer Konzeptualismus, Bielefeld/Leipzig, 2007, S. 50
[12] Bürger, Peter: Ursprung des postmodernen Denkens, Weilerswist, 2000, S.155