Verstreut liegen fünf Würfelsplitter aus schwarzem Vulkangestein im Schlosspark von Salenegg. Als Untergrund dient ein schmaler Kiesweg, der hier einen grosszügigen Kreis bildet – begrenzt von Beet und Hecke. 1988/1989 für den Eingangsbereich eines Bürogebäudes in Zürich entworfen, verlor der Geteilte Würfel durch einen Umbau seinen ursprünglichen Ort und ist seit 2013 auf dem Gelände eines Weinguts im ländlichen Graubünden anzutreffen. Zwischen Rebberg und den Gebäuden von Schloss Salenegg durchquert man eine barocke Gartenlandschaft, deren Symmetrie nun von unregelmässigen schwarzen Prismen unterbrochen wird. Jene Gesteinskörper ragten einmal vor einer Fassade aus Glas und Stahl aus dem Boden und führten vom öffentlichen Trottoir zum Empfangstresen einer Versicherungsgesellschaft – unterstützt von gelb-weissen Lichtbalken in Boden und Decke.
Farbige Lichträume aus Acrylglas bilden ab den 1980er-Jahren ein Schlüsselelement in den architekturbezogenen Werken Marguerite Hersbergers. Parallel zur Ausstellungstätigkeit nimmt damit eine bis heute andauernde Auseinandersetzung mit baulichen Situationen ihren Anfang. Neben jenen Eingriffen in architektonische Gegebenheiten, mit denen sich der folgende Text beschäftigen wird, hat Hersberger eine Vielzahl an unterschiedlichen raumbezogenen Bild-Konstellationen für Innenräume geschaffen. Eine umfassende Darstellung beider künstlerischer Wege würde allerdings den gegebenen Rahmen sprengen. Daher werde ich mich an dieser Stelle auf die erstgenannte, architekturbezogene Praxis konzentrieren. Bevor ich den Spuren und Transformationen ausgewählter Arbeiten folge, die die Künstlerin im Zusammenhang mit Bauprojekten realisieren konnte, möchte ich zunächst einige frühe Experimente mit Licht und Raum vorstellen.
Bereits Ende der 1960er beginnt Marguerite Hersberger, eine Serie kleiner Schaukästen – sogenannte Boîtes magiques – herzustellen. Es handelt sich um kubische Gehäuse aus spritzlackierter Spanplatte, die ein Prisma aus Acrylglas im Inneren bergen. Das Kunststoff-Glas war der Künstlerin mit einer besonderen Eigenschaft aufgefallen: Im Unterschied zu herkömmlichem Glas bündelt Acrylglas nicht nur das auftreffende Licht, sondern leitet es auch wieder in den angrenzenden Raum zurück – allerdings aufgeteilt in Spektralfarben.[1] Rückblickend fällt bereits in diesen kleinformatigen räumlichen Erkundungen auf, dass das Material, mit dem die Arbeit hauptsächlich operiert, vor allem ausserhalb der sichtbaren Rahmung zu finden ist. Licht, das aus der Umgebung auf die prismatischen Geometrien trifft und sich als Spektrum wieder im Raum verteilt, bildet hier sowohl eine grundlegende Bedingung als auch ein Material für den optischen Apparat. Zu Beginn der 1970er-Jahre entsteht eine weitere Serie mit Schaukästen. Die als Organisation spatiale betitelten Volumen vervielfältigen ihre äussere quadratische Form durch im Inneren aufgespannte Nylonfäden in entsprechenden räumlichen Geometrien. Auch hier spielt Licht eine Schlüsselrolle: Je nach Einfallswinkel und Ausbreitung einer umgebenden Lichtquelle zeichnet der Schattenwurf zusätzliche Raumfiguren. Und für bestimmte Momente wird eine immaterielle Bedingung des Sehens selbst sichtbar – fast scheint es, als würde dabei sogar eine physische Ergänzung zum bestehenden Fadengerüst aus Nylon entstehen. Durch die polierte Acrylglasfläche hindurch wirkt der Innenraum des transparenten Schaukastens klar definiert. Dies ändert sich jedoch Mitte der 1970er-Jahre, als Hersberger mit der Serie der Pollisagen auch opake Zonen hinzufügt. Eine partielle Oberflächenbehandlung mit Schleifpapier, die in starkem Kontrast zur makellosen Glätte des Kunststoffs steht, lässt nun zusätzlich semitransparente Bereiche entstehen. Es sind Zonen, in denen sich Licht völlig anders ausbreitet und die mediale Wirkung der Bildvolumen verändert. Deutet sich damit eine Distanzierung von – oder zumindest ein Spiel mit – dem modernen Prinzip der Transparenz an? In jedem Fall handelt es sich um einen Schritt zur Erkundung von räumlicher Materialität und Medialität in der Postmoderne. Raum lässt sich hier nicht mehr im modernen Sinne Le Corbusiers als funktionale «Maschine»[2] verstehen, sondern als ein optisch und zeichenhaft wirkendes Medium mit mehreren, sich überlagernden Ebenen. Ab den 1980er-Jahren trifft man in Hersbergers semitransparenten Bildvolumen zudem auf verspiegelte Elemente, die weitere mediale Komplikationen hinzufügen.
Parallel zu den in Ausstellungskontexten gezeigten Arbeiten sind seither zahlreiche architekturbezogene Entwürfe für räumliche Übergangszonen entstanden. Kunst markiert vielfach dort eine Schwelle, wo Unternehmen oder Institutionen ihr Verhältnis zu Kund*innen oder Passant*innen verhandeln – etwa in Eingängen, Atrien, Fluren oder Liften. Allerdings sind entsprechende Übergänge um 1980 gar nicht so einfach zu identifizieren. Im Gegenteil: Mehrfach spiegelnde Fassaden, nach innen orientierte Grundrisse sowie eine zunehmende Überlagerung öffentlicher und kommerzieller Nutzungen lassen eindeutige Abgrenzungen in Bauten der Postmoderne schwierig werden. Diese Problematik ist auch in anderen Positionen der Kunst und des Designs zu jener Zeit virulent. So bringt etwa Daniel Buren grossflächige Streifen-Markierungen in öffentlichen Strassen und Plätzen von Paris an, Dan Flavin schafft museale Lichträume mit den Leuchtmitteln von Grossraumbüros, und in Zürich spielt der «kritische Manierismus»[3] von Trix und Robert Haussmann mit der Orientierung zwischen Innen- und Aussenraum. Marguerite Hersberger nutzt ebenfalls Spielräume zwischen räumlichen Kategorien, um Material, Durchlässigkeit und räumliche Orientierung in architektonischen Übergangszonen zu thematisieren. Zugleich handelt es sich dabei um Bereiche, die städtebaulichem und gesellschaftlichem Wandel in besonderem Masse ausgesetzt sind. Für künstlerische Arbeiten, die derart enge Verbindungen zur baulichen Umgebung eingehen wie etwa das eingangs erwähnte Beispiel, bringt das grosse Herausforderungen mit sich. Im Gegensatz zum musealen Ausstellungsraum muss Kunst dort zum einen mit Nutzung und Umwelteinflüssen rechnen, und wird zum anderen mehr oder weniger direkt in wirtschaftliche oder politische Kommunikationsstrategien eingebunden.
Es kommt nicht selten vor, dass im Zuge wechselnder Interessenlagen einseitig Änderungen vorgenommen oder bestimmte Teile im Unterhalt ersetzt werden. Insbesondere bei privatwirtschaftlichen Eigentümerschaften kann es sogar zur Demontage oder Entsorgung kommen. Im Fall des Geteilten Würfels wurde Letzteres gerade noch von der Künstlerin verhindert.[4] Erneut arrangiert wurden die Gesteinsformen ungefähr 100 Kilometer östlich, im Park des Weinguts Salenegg – allerdings ohne Lichtstreifen aus farbigem Acrylglas und ohne den Kontext urbaner Büroarchitektur. Man könnte diese architekturbezogene Kunstinstallation mit einer Dienstleistung vergleichen, die man vonseiten des Unternehmens temporär in Anspruch genommen hatte.[5] Wobei es sich zur Zeit der Verlagerung im Jahr 2013 überhaupt nicht mehr um dieselbe Versicherungsgesellschaft handelte. Ein grösseres, global tätiges Unternehmen hatte das Geschäft einige Jahre zuvor übernommen und vollständig in eigene Strukturen integriert. In Salenegg sind die Gesteinsformen an einem anderen Ort und zugleich in einer anderen ökonomischen Umgebung angekommen: Was einst einen Eingangsbereich in der stark globalisierten Versicherungs- und Finanzbranche prägte, befindet sich nun im Park eines lokal produzierenden Familienunternehmens. Der Weinbaubetrieb Schloss Salenegg ist seit Jahrhunderten in Familienbesitz und stellt die Produktion gerade auf erhöhte Biodiversität und pilzresistente Sorten um. Zwei gegenläufige ökonomische Entwicklungen, die in den 1980er-Jahren stark an Einfluss gewannen, kommen durch die verschiedenen Standorte der Arbeit miteinander in Berührung: Ökobewegung und neoliberale Deregulierung.
Doch begegnet man bei den prismatischen Gesteinsformen im Park von Salenegg überhaupt derselben Arbeit, die als Geteilter Würfel 1989 entstanden ist? Wie auch immer man dies beurteilen mag – am neuen Ort existiert ein materieller Teil davon weiter. Und es lassen sich durchaus Parallelen zwischen beiden Versionen feststellen. Sie sind an wichtigen Transitwegen platziert, die unterschiedliche Nutzungen verbinden. Es scheint fast, als hätte im Park ein Kiesweg den Lichtbalken als Wegmarke ersetzt. Auf dem hellen Kies treten die einzelnen Gesteinsformen jedoch wesentlich deutlicher hervor. Sie verweisen hier weniger auf die umgebende Architektur; eher betonen sie ihren eigenen skulpturalen Charakter. Überdies führen die schwarzen Prismen einen grossen Zeitsprung in die Umgebung der barocken Parkgestaltung ein. Ungefähr 300 Jahre liegen zwischen den beiden gestalterischen Entwürfen von Garten und künstlerischer Intervention. Zugleich wirkt es, als wären bestimmte Leitmotive miteinander verknüpft: vom geometrischen Zuschneiden natürlicher Ressourcen über die Einbindung in symmetrische Strukturen hin zum repräsentativen Übergangsraum zwischen Landschaft und Interieur. Jedoch unterscheidet sich die Art und Weise, wie dies in Gartengestaltung und künstlerischer Intervention geschieht, erheblich. Während sich die barocke Pflanzsymmetrie hauptsächlich auf einen zentralen Punkt im Inneren hin orientiert, eröffnen die asymmetrisch angeordneten Würfelfragmente Hersbergers einen dynamischen Spielraum über den markierten Bereich hinaus.
Im Gegensatz zur weit verbreiteten Polemik, es handle sich bei Architektur und Kunst der als Postmoderne betitelten Periode zwischen den späten 1960ern und den frühen 1990er-Jahren[6] lediglich um ein Spiel mit beliebigen Aneignungen,[7] gewinnt man hier eher den Eindruck einer Neuordnung von zeichenhaften Beziehungen. Reinhold Martin hat diesen Prozess in einem Rückblick auf postmoderne Architektur als «Re-Semantisierung» bezeichnet. Die Herstellung und Verknüpfung von Zeichen kann dabei als Hauptziel, ja als «eigene Produktionsweise»[8] gelten. Als prominentes Beispiel dafür beschreibt Martin den Bürokomplex Pennzoil Place[9] in Houston, wo zwei trapezförmig gegeneinander verschobene Hochhausteile mit der perspektivischen Verkürzung eines rechtwinklig begrenzten Raumes spielen. Zudem wirken die Gebäudevolumen durch eine dunkel schimmernde Fassade aus bronze-getöntem Sonnenschutzglas und anodisierten Aluminiumprofilen schwer fassbar. Laut Martin besteht das Gebäudeensemble «nur aus Ecken, sowohl drinnen als auch draussen, […] wobei es einen Zeit-Raum produziert, der weder innen noch aussen, weder hier noch dort, weder dies noch das, weder jetzt noch dann ist».[10] Die Parallelen zu Hersbergers Geteiltem Würfel sind trotz völlig verschiedener Entstehungskontexte verblüffend: Beide geometrischen Körper lösen klare funktionale Zuordnungen gleichsam auf. Die je nach Lichtsituation und Perspektive variabel erscheinenden Umrisse erzeugen eine optische Illusion von konstanter Wandlung und Ausdehnung. Postmoderne Architektur setzt, ebenso wie die darauf bezogenen Arbeiten Hersbergers, durch vielfache Lichtbrechungen, Spiegelungen sowie mehr oder weniger transparente, ineinander übergehende Räume einen medialen Zeichenfluss in Gang. Dennoch wirkt der Gebäudekomplex des Pennzoil Place auf irritierende Weise monumental – und irreal zugleich. Man könnte tatsächlich von einer Verunwirklichung sprechen, in der eine architektonische Fiktion an die Stelle von Funktionen tritt.[11]
Begibt man sich zurück nach Zürich, so ist von Postmoderne im Stadtzentrum auf den ersten Blick nicht viel zu sehen. In der unmittelbaren Umgebung der deutschsprachigen Schweiz sieht es nicht viel anders aus, prominente Beispiele in Stadt- oder Geschäftszentren fehlen.[12] Wenn überhaupt, dann findet man postmoderne Architektur hier eher am Stadtrand, in der Agglomeration oder in der Ausstattung von Eingängen oder Innenräumen. Viele Bauten, die zwischen den 1970er- und den 1990er-Jahren in und um Zürich entstanden sind, thematisieren postmoderne Fragen der Medialität, Materialität und räumlichen Orientierung weniger durch ikonische Fassaden als durch Grundrisse und Details. Verhältnisse zwischen Übergangszonen und Innenräumen spielen dabei eine wichtige Rolle. Das trifft auch auf den gross angelegten Campus-Neubau der Universität Zürich zu, der zwischen 1979 und 1999 auf einem Hügel ausserhalb der Innenstadt in vier Bauetappen realisiert wurde. Aufgrund stark steigender Studierendenzahlen, die sich von den 1950ern bis in die 1960er-Jahre verdreifacht hatten, war ein umfangreicher Ausbau der Bildungsinstitution notwendig geworden. Übrigens steht man aktuell wieder vor ähnlichen Herausforderungen, die mit einer gesellschaftlichen Neuorientierung von der ehemaligen Industrie- hin zur globalisierten Wissens- und Dienstleistungsökonomie zu tun haben. Für die zweite, 1983 abgeschlossene Bauetappe, hat Marguerite Hersberger eine besondere Nahtstelle zu den bereits 1979 fertiggestellten Gebäudeteilen geschaffen. Eine Reihe von Leuchtelementen in Boden, Säulen und Decke führt nun vom bestehenden Baukörper in den zentralen, zweigeschossigen Lichthof des Irchel-Campus. Die begrenzenden, dreieckigen Bodensegmente der Farblichtfelder (1980–1983) zeigen entlang der Bruchlinie abwechselnd in das eine oder das andere Gebäude. Darin eingelassene, begehbare Lichtstreifen verbinden beide Räume in Kontaktzonen blauen, weissen, gelben, und noch einmal weissen sowie blauen Lichts. In Arbeiten der 1980er-Jahre dominieren vor allem Blau und Gelb – zwei elementare Bestandteile einer prismatischen Lichtbrechung. Der exemplarische Kalt-Warm-Kontrast schafft gegensätzliche Farbräume, die sich im architektonischen Raum wieder mischen und von diversen Oberflächen jeweils unterschiedlich absorbiert werden. Damit präsentiert Hersberger die üblicherweise nicht wahrgenommene Aufteilung des Lichtspektrums in einzelne Bestandteile und zugleich dessen räumliche Diffusion. Während der 1980er-Jahre hat im Zuge umfassender technologischer Transformationen die Präsenz von Kunstlicht durch elektronische Displays, Aktivitätsanzeigen (on, off, Stand-by und so weiter) oder Disco-Choreografien exponentiell zugenommen.[13] Zugleich kann Licht seit der modernen Elektrifizierung als exemplarisches Medium gelten, das alles durchdringt, gewissermassen als pures «Medium ohne Mitteilung»[14].
Eine zentrale Zone, die von gelben Lichtstreifen gebildet wird, überführt darüber hinaus die Symmetrie eines unmittelbar angrenzenden Hörsaals aus dem ersten Bauabschnitt in den Lichthof der Erweiterung. Entlang der tragenden Säulenstruktur, die eine Seite des Atriums und zugleich des neuen Gebäudes begrenzt, begegnen sich die Dreiecke aus Lichtstreifen in einem leuchtenden Rahmen. Wobei die Begegnung hier nur in der räumlichen Verbreitung des Lichts stattfindet, nie jedoch in der materiellen Form der Streifen selbst. Wie ein offener Reissverschluss verbleiben die Lichtstreifen an Decke und Boden in einer gewissen Distanz zueinander. Die gespiegelte Fortsetzung der Dreiecke jenseits der ehemaligen Gebäudegrenze deutet eine gemeinsame Achse an. Bestimmte Elemente wie die dunkleren Bodenplatten der zweiten Bauetappe oder die Farbgebung des benachbarten Dreiecks treten zum Teil auch materiell in andere Zonen über. Auf diese Weise entsteht eine beachtliche räumliche Dynamik. Verstärkt wird dieser Eindruck nicht zuletzt dadurch, dass die Spitze der im Boden markierten Dreieckszonen nie ganz von den Lichtstreifen ausgefüllt wird. Aus räumlicher Sicht bleibt der Fluchtpunkt der Dreiecke unbestimmt. Und es ist bemerkenswert, wie stark sich die Wirkung der künstlerischen Interventionen aus unterschiedlichen Perspektiven des weitläufigen Lichthofs verändert. Während man im Darübergehen fast völlig von den Lichtfarben und der Geometrie der Farblichtfelder absorbiert wird, erscheint die Arbeit aus einiger Entfernung lediglich als Markierung.
Durch einen spielerischen Umgang mit Perspektive, Symmetrie und Übergängen hebt Hersberger in dieser Arbeit postmoderne Typologien der zweiten Bauetappe im Irchel-Campus hervor.[15] Dies gilt sowohl für die Gestaltung bestimmter architektonischer Elemente – etwa der auffällig prismatischen Konstruktion der Betondächer – als auch für bevorzugte Raumtypen wie das Atrium. Dessen Verschmelzung von öffentlichen, privaten und institutionellen Interessen ist häufig inszeniert und nicht zuletzt auch kritisiert worden. Im selben Gebäude zeugen grosszügige Fensterbänder und die Verwendung von Sichtbeton in konstruktiven Elementen von einer anhaltenden Präsenz moderner Prinzipien. Es scheint, als seien Transparenz und Materialgerechtigkeit in der zweiten Bauetappe nicht völlig zugunsten von Zeichenproduktion und Grenzverschiebungen aufgegeben worden. Tatsächlich trifft man hier auf eine in der Deutschschweiz nicht selten zu beobachtende Kombination moderner und postmoderner Elemente. Durchquert man die Farblichtfelder auf dem Irchel-Campus im Frühjahr 2023, kommen temporäre Faktoren hinzu, auf die Konzeption und konservatorische Pflege der Arbeit keinen Einfluss haben, die aber dennoch Lesarten der Arbeit entscheidend verändern können. Voluminöse Abfallkörbe aus glänzendem Edelstahl oder hochgewachsene Grünpflanzen gehören dabei ebenso zum Gesamteindruck wie das weitverbreitete Herumtragen von Bildschirmen in der Gegenwart.
Über zeitliche Distanzen sowie gesellschaftliche und mediale Veränderungen hinweg haben bestimmte Strategien in den architekturbezogenen Arbeiten Hersbergers ihre Relevanz nicht nur behauptet, sondern können heute noch einmal unter neuen Vorzeichen gelesen werden. Das hat einerseits damit zu tun, dass man postmodernen Themen und Formen im vergangenen Jahrzehnt wieder vermehrt begegnet und diese offensichtlich wieder an Bedeutung gewonnen haben. Allgegenwärtige Handy- und Tabletscreens fügen zum Beispiel den Lichtstreifen der Farbfelder im Universitäts-Atrium noch diverse parallele, mobil im Raum zirkulierende Leuchtflächen hinzu. Jene mediale Durchdringung von Räumen, wie sie bei Hersberger exemplarisch in Licht-Raum-Beziehungen erkundet wird, kann im Moment wohl als eines der wichtigsten – und kontrovers diskutierten – gesellschaftlichen Themen gelten. Medien treten uns nicht mehr als künstliche Welt entgegen, sondern sind weitgehend unauffällig in die Umgebung integriert.[16]
Licht und Farbe spielen weiterhin eine Hauptrolle in den zahlreichen architekturbezogenen Projekten, die Hersberger in den vergangenen Jahrzehnten realisieren konnte. Allerdings hat sich das Farbspektrum zunehmend erweitert bis hin zur gesamten Bandbreite der Lichtbrechung. Darüber hinaus sind einige Arbeiten in den 1990er-Jahren in neue skulpturale Dimensionen gewachsen, die sich auf monumentale Aussenfassaden beziehen, diese aber zugleich optisch zerlegen. So nimmt Lichtbrücken und Lichtsäule (1996/97), eine Arbeit an einem Versicherungsgebäude in Leipzig, die Symmetrie der Architektur auf und fügt der zentralen Eingangssäule über vier Geschosse (17m) einen blau leuchtenden Streifen hinzu. Zugleich aber weisen hier schmale, unterbrochene und ebenfalls blau leuchtende Halbkreise auch auf die statischen Herausforderungen der gebauten Balance hin. Im darauffolgenden Jahr verdoppelt Aussen-Innen-Innen-Aussen (1998) gleichsam die repräsentative Säulenstruktur eines anderen Versicherungsgebäudes in Frankfurt am Main in den vorgelagerten Aussenraum hinaus – auch hier wird ein wesentliches Element architektonischer Repräsentation gleichzeitig betont und aufgebrochen.
Seit den 2010er-Jahren nehmen einige Projekte auf besonders spielerische Weise jenes Interesse an der spezifischen Zeichenhaftigkeit von Farbe und Licht noch einmal auf, das beispielhaft bereits in den 1980er-Jahren auf dem Irchel-Campus zum Ausdruck gekommen war. Farbe-Licht-Zeichen entsteht zwischen 2011 und 2012 für ein Alterszentrum in Pfäffikon (ZH). Es handelt sich um einen mehrteiligen künstlerischen Entwurf, der in engem Austausch mit dem planenden Architekturbüro entstand. Hersberger entwickelt sowohl Bild- und Lichtvolumen für Korridore und Aufenthaltsräume in jedem Stockwerk als auch farbige Bodenintarsien, die auf Schlüsselfunktionen des Gebäudes hinweisen. Die architekturbezogene, auf bauliche Veränderungen zielende Praxis der Künstlerin wird hier mit einer raumbezogenen, vor allem mit Bild-Konstellationen operierenden Arbeitsweise verknüpft. Die in Punkt-Strich-Folgen aufgeteilten Bodenelemente und die hinterleuchteten Quadrate der Korridor-Paneele wirken wie Codes einer Morse-Sprache oder eines Pixelbildes. Dabei handelt es sich um Codierungen, die man zwar als formale Struktur erkennt, aber als Zeichen ohne spezialisiertes Wissen oder entsprechende Geräte kaum entschlüsseln kann. Die technologisch codierte Umwelt – dies gilt in einem gewissen Sinne auch für Architektur und Städtebau – ist nicht mehr unmittelbar lesbar. Menschliche Wahrnehmung ist heute vielmehr auf die Sensorik und Interpretationsfähigkeiten digitaler Schnittstellen angewiesen. Vielleicht verweisen Hersbergers architektonische Interventionen damit noch einmal auf jene ästhetisch-technologisch-ökonomische Verknüpfung, die seit der Postmoderne zusehends an Bedeutung gewonnen hat: eine informatisierte Gesellschaft[17] mit ihrem Versprechen von Immaterialität, Diffusion und Pluralismus.
[1] Vgl. Rudolf Koella, «Im Zwischenreich. Zum Frühwerk von Marguerite Hersberger», in: Marguerite Hersberger, Ausst.-Kat. Haus für konstruktive und konkrete Kunst Zürich, Zürich 1995, S. 10.
[2] Im Original: «machine à habiter», siehe: Le Corbusier-Saugnier, «Des yeux qui ne voient pas…: Les Paquebots», in: Esprit Nouveau, Nr. 8, Mai 1921, S. 848.
[3] Trix und Robert Haussmann schufen mit zahlreichen Innenarchitektur-Projekten, Möbel-Editionen, aber auch Aufträgen im öffentlichen Raum (etwa dem Untergeschoss des Zürcher Hauptbahnhofs im Zusammenhang mit dem S-Bahnbau 1992) ein ornamental-manieriertes Spiel zwischen Innen-und Aussenräumen – ein Arbeitsprinzip, das sie selbst als «kritischen Manierismus» bezeichnet haben. Vgl. Trix Und Robert Haussmann, Documenti 5: Manierismo Critico / Progetti, Oggetti, Superfici, 19 Maggio 1981, Mailand 1981.
[4] Durch einen befreundeten Kunsthändler erfuhr Hersberger von umfassenden Renovationsarbeiten in jenem Gebäude, in dessen Eingangszone die Arbeit installiert war. Erwähnt in einem Gespräch mit dem Autor am 11. Mai 2023.
[5] Das Kunstwerk wurde 2013 vom Unternehmen an die Künstlerin zurückgegeben.
[6] Es existieren dazu sehr unterschiedliche Einordnungen: einerseits zur Dauer, andererseits zu Frage, ob es sich bei Postmoderne überhaupt um eine historische Periode oder eher um eine Sensibilität handelt. Meine Zeitangabe umfasst hier jenen Zeitraum, auf den sich Diskurse der Postmoderne hauptsächlich beziehen.
[7] Vgl. Jürgen Habermas, «Die Moderne – ein unvollendetes Projekt», in: ders., Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze, Leipzig 1990, S. 32–54.
[8] Reinhold Martin, Utopia’s Ghost: Architecture and Postmodernism, Again, Minneapolis und London 2010, S. 4. Übers. d. Autors.
[9] Die beiden Trapez-Türme sind nach dem Auftraggeber, dem zur Shell-Gruppe gehörenden Ölunternehmen, benannt und wurden von Philip Johnson und John Burgee entworfen. 1975 fertiggestellt, erhielt ihr Architekturbüro dafür 1979 den zum ersten Mal ausgelobten Pritzker Prize.
[10] Reinhold Martin (wie Anm. 6), S. 100 u S. 109. Übers. d. Autors.
[11] Vgl. David Harvey, The Condition of Postmodernity: An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Cambridge (MA) 1991, S. 338–342.
[12] Eine umfassende Forschung zu postmoderner Architektur in der Deutschschweiz steht noch aus. Ein Forschungsprojekt von Cyril Kennel untersucht Beispiele und mediale Wahrnehmung aktuell in einem Forschungsprojekt: https://postmoderne.ch (zuletzt abgerufen am 5. Juni 2023).
[13] Hersberger in einem Interview 1995: «Wir stehen erst am Anfang einer neuen Lichtkultur […].» In: Elisabeth Grossmann und Marguerite Hersberger, «Raumbezogene Kunst», in: Marguerite Hersberger, Ausst.-Kat. 1995 (wie Anm. 1), S. 31–58, hier S. 33.
[14] Marshall McLuhan, Understanding Media, Cambridge (MA) und London 1999 (Erstausgabe 1964), S. 8. Übers. d. Autors.
[15] Der Gebäudekomplex der zweiten Bauetappe auf dem Irchel-Campus der Universität Zürich wurde von Jakob Schilling sowie Zweifel+Strickler+Partner geplant und realisiert. Vgl. Jakob Schilling und Heinrich Blumer, «Die Universität Zürich-Irchel, II. Etappe: zur Aufgabe der Architekten», in: Schweizer Ingenieur und Architekt, 103/38 (1985), S. 895–905.
[16] Siehe auch Florian Sprenger, Epistemologien des Umgebens. Zur Geschichte, Ökologie und Biopolitik künstlicher Environments, Bielefeld 2019.
[17] Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz und Wien 1986, S. 19. Allerdings handelt es sich bei der von Lyotard skizzierten gesellschaftlichen Entwicklung um eine Vision, die schon bald nach ihrer Veröffentlichung als «neoliberaler Interessengruppen-Pluralismus plus Computer-Demokratisierung» in die Kritik geraten ist: Seyla Benhabib, «Epistomologies of Postmodernism: A Rejoinder to Jean-François Lyotard», in: Linda J. Nicholson (Hg.), Feminism/Postmodernism, London und New York 1990, S. 107–132, hier S. 123. Übers. d. Autors.