Schrankwände, Spiegel und Couchtische. Was zuerst auffällt, ist die opulente Vielfalt von Formen, Oberflächen und Mustern, die Böden und Wände überzieht. So ragt ein schwarz-rot-gelb gemusterter Teppich an weißen Wänden empor, ein Tapetenmuster mit silbern geprägten Quasi-Signaturen setzt sich scheinbar in Wellen-Wandhaken oder Wolken-Spiegeln fort. Auch ein Publikum, das die 1990er Jahre nicht selbst erlebt hat, dürfte hier kaum an der historischen Einordnung zweifeln: Es handelt sich ausschließlich um Interieur-Relikte aus jener Zeit. Wie Henrike Naumann den Kunstverein Hannover im Rahmen der Ausstellung 2000. Mensch, Natur. Twipsy (2019) eingerichtet hat, erinnert teilweise an Ausstellungsflächen damaliger Möbelgeschäfte. Allerdings wird diese Kontinuität immer wieder durch eingebettete Videoarbeiten, Leihgaben aus dem örtlichen Museum der Expo 2000 (Exposeeum) oder überzeichnende skulpturale Gesten unterbrochen. Wobei die vorhandenen Artefakte wohl kaum überzeichnet werden können – sie sind es bereits. Jene visuelle Provokation, die sich nach dem Eindruck eines Rezensenten in „schmerzlich hässlich und sentimental wirkenden Designsünden“ zeigt (Briegleb 2019), ist immer wieder auf ihre Zugehörigkeit zur materiellen Kultur einer Post-Postmoderne zurückgeführt worden. Das, was in gesamtdeutschen Möbelhäusern der 1990er Jahre zur Ausstellung kam – und danach in zahllose Haushalte sowie über Ebay-Kleinanzeigen oder Gebrauchtwarenläden in Naumanns Ausstellungen gelangt ist –, kann zwar kaum als programmatische Postmoderne[1] gelten. Dennoch scheinen sich die auftürmenden „Designsünden“ noch immer gegen moderne Rationalitätsgebote zu wehren und haben offensichtlich nichts an provokativem Potenzial eingebüßt. Dies könnte auch mit dem Charakter der Kunstvereinsräume zusammenhängen, die nach wie vor dem modernen Standard des White Cube verpflichtet sind. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die sorgfältig geweißte Leere sich ihren Platz in Naumanns Ausstellung mit Wohn- und Schlafzimmermöbeln teilen muss.
Mit dieser provozierenden Konstellation wird Einrichten in zweifacher Hinsicht adressiert: Zum einen geht es hier durchaus um Elemente einer alltäglichen Lebensumgebung, die aus Wohnräumen bekannt sind. Zum anderen suchen die Installationen einen Umgang mit dem seit der Moderne möglichst von allen Interieur-Elementen befreiten White Cube. Anders gesagt: Es geht in diesen Einrichtungen der zeitgenössischen Kunst um Einräumen und Ausräumen zugleich. Diese Ambivalenz betrifft jedoch nicht nur zwei gegenläufige Handlungen, sondern auch zwei Perspektiven auf das Einrichten, die mit der Etablierung des White Cube zumindest rhetorisch einmal strikt voneinander abgegrenzt wurden: das Alltagsleben und eine davon geschiedene Sphäre der Kunst. In Naumanns Installationen wird jene Trennung keineswegs aufgehoben (der White Cube des Kunstvereins ist neben den Interieur-Elementen immer noch sichtbar), wohl aber einer Kritik ausgesetzt, in der beide Sphären miteinander verwoben sind. Die Interieurs einer verspäteten Postmoderne verschärfen diese Ambivalenz und damit auch den Tonfall möglicher Kritik. Denn der White Cube ist seit der Postmoderne nicht nur durch die massenhafte Verbreitung anti-rationalistischer Möbel im Alltagsleben des Publikums unter Druck geraten, sondern auch durch künstlerische Interventionen mithilfe des Designs (Meltzer 2020, S. 119–160). Darüber hinaus tragen die Ausstattungsdetails von Kommoden oder Schrankwänden im Kunstverein Hannover nicht zur Entspannung der Lage bei. Und in verschiedenen Videos werden gleichsam die politischen Antipoden zu postmoderner Pluralität vorgeführt – natürlich auf zeittypischen Röhrenmonitoren. Die kritische Ambivalenz des Einrichtens zielt hier keineswegs nur auf bestimmte Ausstellungskonventionen, sondern greift auch gesellschaftliche Hoffnungen oder Zweifel auf, wie man sich in einem Alltagsleben einrichtet. Ob nun Reichsbürger Manifeste verlesen oder jugendliche Neonazis Übergriffe proben – das Überdauern eines modernen Reinheitsdenkens wird hier ebenso spürbar wie durch die räumliche Rahmung des modernen White Cube. Was sich in modernen Tendenzen des Ausräumens, der Ablehnung jeder Abweichung sowie der strikten Trennungen auf gestalterischer Ebene gezeigt hat, zeitigte parallel in politischen Bewegungen der Moderne – namentlich im Nationalismus und Nationalsozialismus – eine mörderische Konsequenz. Letztlich begegnet man in jener von Helligkeit, Ordnung und Reinheit durchdrungenen Atmosphäre modernistischer Räume zugleich einer kulturellen Bedingung für die Katastrophe des Holocausts (Bauman 2012, S. 46ff.).
Der folgende Text erkundet das gesellschaftlich-ästhetische Spannungsfeld zwischen Wohnraum und Kunstraum in drei Schritten: Zunächst soll ein historischer Exkurs an die Entfernung von Mobiliar aus dem sich etablierenden White Cube erinnern, bevor ich mich mit einem Raum (von insgesamt sieben) in Henrike Naumanns oben genannter Ausstellung genauer auseinandersetzen möchte. Vor diesem Hintergrund werde ich abschließend einige kritische Überlegungen zu Jacques Rancières einflussreicher Theorie eines andauernden ästhetischen Regimes der Moderne formulieren, die unaufhebbare Verbindungen zwischen der Gestaltung von Alltags- und Kunsträumen beobachtet hat. Was Naumanns Werkgruppe 2000 betrifft, auf die sich meine Auseinandersetzung hier konzentriert, so fokussiere ich damit vor allem auf einen Schauplatz: die Überlagerungen von Moderne und Postmoderne während der 1990er Jahre in Ostdeutschland[2] – auf weitere Räume und Themen der Ausstellung kann ich an dieser Stelle nur verweisen, da deren ausführliche Besprechung den gegebenen Rahmen sprengen würde.
Ausräumen. Zur Etablierung des White Cube in den 1920er Jahren
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschwinden ausladende Polstermöbel oder ornamentale Wandtapeten aus den Museen. So wie sich der Ausstellungsraum zunehmend selbst als weiße Zelle ausstellt, wandelt sich zugleich auch das Ideal des Einrichtens in privaten Interieurs. In der modernistischen Ratgeberliteratur der 1920er Jahre von Bruno Taut (2001) über Sigfried Giedion (1929) bis zu Hans Eckstein (1931) ist vielfach von einer Befreiung des Raumes die Rede. Abbildungen modernistisch eingerichteter Wohnungen liefern darin nicht nur modellhafte Prototypen, wie ein modernes Leben eingerichtet werden soll, sondern ähneln auch dem neuen, ausgeräumten Typ des Ausstellungsraums. Dabei klingt nicht zuletzt das gesellschaftspolitische Ziel an, eine neue Umgebung zu schaffen, die der modernen Lebensweise entspricht. Mit dem Blick auf das Zweckmäßige, Leichte und Durchlässige soll einer beschleunigten Dynamik moderner Lebensweisen Rechnung getragen werden. Damit ist vor allem eine Befreiung von allem gemeint, was nicht ständig genutzt wird – auch Wohnungseinrichtungen sollen nun möglichst einem industriellen Effizienzgebot genügen. Vieles wird mobil, Konstruktionen erscheinen transparent oder verschmelzen in Einbauschränken gleichsam mit den angrenzenden weißen Wänden. Jacques Rancières Konzept einer Aufteilung des Sinnlichen, wo Kunst – so autonom sie auch verstanden werden mag – grundsätzlich einen gemeinsamen Raum mit einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung teilt, hat besonders die gleichzeitigen modernen Tendenzen zur Abgrenzung von und Bezogenheit auf eine Alltagsumgebung thematisiert. Das Ausräumen von Ausstellungsinstitutionen und die parallel entwickelten reduzierten Formensprachen für Wohnungseinrichtungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts lassen sich insofern auch „als Idee eines […] ,Mobiliars‘ der neuen Gemeinschaft“ verstehen (Rancière 2008, S. 29).
Auf die programmatische Relevanz des modernen Designs sowie die zunehmende Konkurrenz durch Massenmedien antworten Ausstellungsinstitutionen in der Weimarer Republik auf unterschiedliche Weise: einerseits durch das Bestreben, Kunstwerke möglichst aus einem Zusammenhang zu lösen und auf diese Weise eine Erfahrung ihres autonomen Charakters zu ermöglichen, andererseits durch die Annäherung an die neuesten Raum- und Displaykonzepte für den modernen Lebensalltag. Ein Publikum mit attraktiven räumlichen Angeboten zu gewinnen, wird für Kuratoren wie Ludwig Justi zum entscheidenden Argument für eine radikale Umgestaltung von Ausstellungsräumen. Auf dem Weg vom möblierten Ausstellungssalon des 19. Jahrhunderts zum White Cube des 20. Jahrhunderts orientieren sich museale Einrichtungskonzepte ab den 1920er Jahren auch am Neuen Bauen bzw. der veränderten Einrichtung modernistischer Wohnräume. 1928 lässt Justi die Wände im Obergeschoss der Neuen Abteilung der Berliner Nationalgalerie im ehemaligen Kronprinzenpalais strahlend weiß streichen (Klonk 2009, S. 99f.), wodurch ein auffallender Kontrast zu den ersten beiden Geschossen des Palais entsteht, die 1919 als zusätzliche Ausstellungsflächen der Nationalgalerie eröffnet worden waren. Dort ist durch prächtige Kamine, Stuckaturen und reich dekorierte Stofftapeten noch die repräsentative aristokratische Atmosphäre der vormaligen Bewohner zu spüren – auch wenn Justi einen Großteil der Möbel in Laufe der Jahre entfernen lässt (Joachimides 2001, S. 208). Dagegen wird in den beiden geweißten Räumen Malerei von Max Beckmann und Lionel Feininger völlig schmucklos und gänzlich ohne Mobiliar präsentiert. . Auch international geht die Verbreitung des Neuen Bauens ab den 1920er Jahren mit einer bis heute andauernden Popularisierung des White Cube einher. 1929 öffnet das Museum of Modern Art in New York als weltweit erstes Museum seine Türen, das für alle Abteilungen auf den White Cube als Ausstellungsprinzip vertraut und darüber hinaus von Beginn an über eine auf Design spezialisierte Abteilung verfügt.[4]
Im Rückblick zeigt sich: Das modernistische Ausräumen birgt ein doppeltes Versprechen. Einerseits werden Spuren des Alltags – etwa in Gestalt gepolsterter Fauteuils – aus institutionellen Räumen des Ausstellens getilgt, andererseits wirken moderne Wohnungseinrichtungen immer mehr wie Ausstellungsräume. Wenn nun in begleitenden Programmen des Modernismus vielfach von Befreiung gesprochen wird, ist dies mehr oder weniger explizit mit gesellschaftlichen Hoffnungen auf ein neues Menschenbild verbunden. Mit der geweißten Zelle daheim oder im Museum präsentiert man gewissermaßen auch den fortschrittlichen, reinigenden, transparenten Charakter einer politischen Gesinnung. So versprechen Taut und Giedion eine Befreiung vom aufwendigen und letztlich versklavenden Unterhalt (Taut 2001, S. 95; Giedion 1929, S. 5) sowie von den „dicken Mauern“ der nach außen abgeschirmten Behausungen. Stattdessen soll das „geöffnete Haus“ der Moderne zulassen, dass die „Dinge [sich] durchdringen“ (Giedion 1929, S. 7). Aus ökonomischen und ästhetischen Gründen wird dabei für Reduktion und weiße Wände plädiert; zugleich setzt man in transparenten Konstruktionen, mobilen Elementen sowie der Materialwahl auch verstärkt auf Beziehungen zu anderen Räumen. Selbst im Modernismus sind Interieur und Ausstellungsraum keineswegs so kategorisch voneinander geschieden, wie es die spätere Etablierung des White Cube nahegelegt haben mag (vgl. O’Doherty 1996, S. 24ff.). Vielmehr bleiben beide Sphären trotz rhetorischer Abgrenzung eng miteinander verbunden. Die Freiheit der Kunst ist insofern verknüpft mit der Freiheit, sich ein (anderes) Leben einzurichten. Allerdings galt die Befreiung im Namen einer effizient organisierten und fortschrittlichen Moderne nicht für alle Menschen gleichermaßen: So werden Frauen etwa bei Giedion und Taut nicht als eigenständige Protagonistinnen, sondern nur als einer Behausung zugeordnete und davon abhängige Wesen erwähnt, die erst durch die Interventionen der Architekten befreit werden können. Darüber hinaus bekommen die weißen Wände mit ihrer bemerkenswerten Verbreitung während des Nationalsozialismus, wo man trotz Ablehnung der künstlerischen Modernebewegungen deren reinigenden und standardisierenden Charakter schätzt (Klonk 2009, S. 125), eine ethisch äußerst fragwürdige Grundierung. Ebenso wenig wie der White Cube als politisch neutral gelten kann, so wenig lässt er sich von den gestalteten Interieurs seiner Entstehungszeit trennen.
Einräumen. Beziehungen zwischen Interieur und White Cube bei Henrike Naumann
Allen diskursiven Abgrenzungsmanövern um den White Cube zum Trotz bleiben nicht nur die fortdauernden Beziehungen zwischen Kunstraum und Interieur spannend, sie weisen auch generell auf eine gewachsene Bedeutung des räumlichen Rahmens hin. So hat sich das Konzept eines künstlerisch umfassend gestalteten Raumes – oder in der heutigen Terminologie: der Installation – zum Standardformat zeitgenössischer Kunstpräsentationen entwickelt (vgl. Rebentisch 2013). Der White Cube als ein Format, das gleichsam den Raum selbst zur Ausstellung bringt, dürfte dies begünstigt haben. Zugleich ist das Interieur als Material und Thema künstlerischer Arbeiten während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Ausstellungsräume zurückgekehrt. In gesellschaftlicher Hinsicht war damit sowohl eine Kritik an der sozialen Rolle der Kunst wie auch an zeitgenössischen Formen des Einrichtens verbunden. So haben Tendenzen von Pop Art in den 1960er Jahren bis hin zu Institutioneller Kritik in den 1970er/1980er Jahren und Relationaler Ästhetik um 2000 durch Einrichtungs-Interventionen immer wieder kritische Fragen zu räumlichen Abgrenzungen, aber auch Bezugnahmen aufgeworfen. Interieur kommt dabei weniger als privater Raum zur Ausstellung, sondern vor allem als gesellschaftliche Vorstellung, sich ein Leben einzurichten. Umgekehrt erscheint der Ausstellungsraum nicht nur als öffentlicher Raum, sondern als Einflusssphäre unterschiedlicher – auch privater – Interessen und persönlicher Obsessionen. Zwischen institutionellem und alltäglichem Einrichten durchdringen Interieurs in der zeitgenössischen Kunst diese Grenzziehungen auf ambivalente Weise.
Angesichts des großen medialen Interesses an Henrike Naumanns ausgestellten Möbel-Elementen scheint es, als habe das Interieur in der Gegenwartskunst weder an Beliebtheit noch an kritischem Potenzial verloren. In der Vielzahl der Stimmen fällt besonders das wiederholte Schaudern angesichts post-postmoderner Zumutungen auf, das von Monumentalität, Sentimentalität oder „humoristischen Unverwendbarkeiten“ (Stakemeier 2018, S. 215) ausgelöst wird. Darüber hinaus wird durch Naumanns Videoarbeiten, die auf diversen TV-Geräten laufen, eine untote deutsch-deutsche Moderne gleichsam wieder lebendig. Es öffnet sich ein Blick in zeitliche Untiefen, die sich in der Nachwendezeit der 1990er Jahre überlagern. So beobachtet man etwa ein jugendliches Trio beim gemeinsamen Austesten von Grenzen – von Hass und Gewalt (Terror, Triangular Stories, 2012), aber auch durch Drogenkonsum und Partys (Amnesia, Triangular Stories, 2012). Jemand ist immer mit der Kamera dabei, wenn einer zusammengeschlagen wird oder Passanten angepöbelt werden, sich die beiden anderen gegenseitig anfeuern oder provozieren. Der Zeitstempel in den Videobildern zeigt „1992“ an, auch das Mobiliar scheint aus jener Zeit zu stammen. Im Plattenbau-Zimmer der Terror-Protagonistin begegnet man etwa einem bunt gemusterten Futon-Sofa, zahlreichen Kuscheltieren (u.a. einem Rosaroten Panther) oder einem an das Empire State Building erinnernden CD-Regal. Vor Boygroup-Postern und der Reichskriegsflagge wird der Hitlergruß geübt. Die Konstellation erinnert nicht von ungefähr an jenes Trio des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), das sich zwischen Jena, Chemnitz und Zwickau in den 1990er Jahren als rechte Terrorgruppe radikalisierte – auch die Anrede „Uwe“ fällt gelegentlich. Ausgestattet mit einem verchromt glänzenden Baseballschläger, trainieren die drei in leeren Fabrikhallen und aufgegebenen Schulen, bedrohen jemanden im Vorbeigehen oder beginnen eine Schlägerei. Die pluralistische Popkultur des Einrichtens – zusammengesetzt aus billigem Glamour, Comic-Motiven und diversen postmodernen Zitaten – tritt hier begleitet von einer gewalttätigen modernen Reinheitsideologie auf, die sich auf den deutschen Nationalismus des 19. und den Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts beruft. Daran, dass die entsprechende Ikonografie nicht nur als besonders krasses modisches Element zum Einsatz kommt, erinnern sowohl die brutalen Attacken des jugendlichen Trios in Naumanns Terror als auch die Mordserie des NSU – deren Bekennervideos ebenfalls mit ihrer zynischen Überlagerung von Popkultur (Verwendung von Serien-Clips aus Der rosarote Panther) und Nazi-Propaganda schockierten.
Terror und Amnesia, die beiden Videos über das jugendliche Trio, laufen im Kunstverein Hannover auf zwei baugleichen Fernsehmonitoren – einander zugewandt, als würden sie sich gegenseitig beobachten (Abb. 1). Beide sind in einer gewissen Distanz zueinander auf blattgemusterten Beistellkommoden platziert, die als Podeste für die Fernsehgeräte dienen. Deren Kunststoffgehäuse sind – ebenso wie die der Kommoden – auffällig abgerundet. Rückblickend scheint es, als habe das Design jener Dekade durch abgerundete Ecken, wellenförmige Diagonalen oder sorgfältig inszenierte Unregelmäßigkeiten versucht, beinahe jede orthogonale Form zu vermeiden. So begegnet man in unmittelbarer Nachbarschaft eines Monitors zwei von einem Couchtisch emporschlängelnden silber-blauen Lämpchen – eine als überdimensionale Glühbirne, die andere in Herzform –, während sich gegenüber eine Schlaf-Wohnkombination anschließt. Dort schlängeln sich ebenfalls wellenförmige Griffe wie auch ein entsprechend gestaltetes Spiegelelement an der holz- und anthrazitfarben laminierten Schrankwand empor. Das anti-orthogonale Programm findet seinen Höhepunkt in einem ikonoklastischen Anschlag auf die ostdeutsche Moderne gleich nebenan: Inmitten eines Wohnzimmer-Arrangements lässt sich auf einem digitalen Bilderrahmen die Sprengung eines Plattenbaukomplexes verfolgen (Hundertwasser, 2018). Während mehrere Hauseingänge ebenso seriell in sich zusammensacken, wie sie einst zusammengesetzt worden waren, kommentiert ein Nachrichtensprecher erleichtert: „Die Stadt befreit sich allmählich von der seelenlosen Fassade der DDR-Wohnblocks […]“. Befreiung meint hier offensichtlich nicht Befreiung zur Moderne, sondern von der Moderne. Auf eine Anfrage der Stadt Magdeburg zur Umgestaltung des im Video gezeigten Hochhauses hatte der Künstler Friedensreich Hundertwasser letztlich einen Abriss empfohlen, um dort frei von vorhandenen Strukturen den Gebäudekomplex Grüne Zitadelle (eröffnet 2005) zu entwerfen. ähnlich ikonoklastischen Bildern von Hochhaus-Sprengungen wurde 1972 das Ende der Hochhaussiedlung in Pruitt-Igoe besiegelt – für Charles Jencks damals ein Anlass, die Kapitulation der Moderne und den definitiven Beginn der Postmoderne festzustellen (Jencks 1977, S. 9). Was einmal als Leuchtturmprojekt der Nachkriegsmoderne in St. Louis, Missouri, erbaut worden war, galt zu diesem Zeitpunkt schon als Problemquartier, das von grassierendem Leerstand, sozialer und baulicher Vernachlässigung geprägt war. Doch die mediale Symbolik einstürzender Moderne-Bauten nutzten in der Nixon-Ära nicht nur Fürsprecher einer postmodernen Architektur wie Jencks, sondern auch neoliberale Stimmen als unüberbietbares visuelles Argument gegen Stadtplanung, Sozialwohnungen oder Gemeinschaftseinrichtungen (Harvey 1990). In den gerade der BRD beigetretenen neuen Bundesländern sanken während der 1990er Jahre die Einwohnerzahlen besonders in den Wohneinheiten der sozialistischen Moderne rapide – teilweise aufgrund signifikanter Abwanderungsbewegungen in den westlichen Teil Deutschlands,[6] aber auch infolge neuer Möglichkeiten zum Erwerb von Einfamilienhäusern im suburbanen Umland. Neben zunehmender sozialer Segregation wurden teils gänzlich unbewohnte Straßenzüge zur Herausforderung für ostdeutsche Städte und Gemeinden. Darüber hinaus kam es häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen antifaschistischen Jugendgruppen und Neonazis, aber auch zu gezielten rechtsextremen Angriffen auf ausländische Anwohner – etwa mit Pogromen in den Plattenbausiedlungen von Hoyerswerda (1991) und Rostock (1992), die dort unter dem Beifall der örtlichen Bevölkerung verübt wurden.
Abgesehen von Leerstand und Neonazi-Gewalt zog nun parallel das gestalterische Erbe der Postmoderne in die Plattenbauten der ehemaligen DDR ein. Jene Möbel, die in neu gegründeten Niederlassungen westdeutscher Einrichtungshäuser plötzlich in großen Mengen verfügbar waren, strahlten mit ihrem Variantenreichtum den heiteren Optimismus schier unbegrenzter Optionen aus, sich individuell einzurichten. Damit formulierte das gegen die standardisierte Ästhetik der industriellen Moderne gerichtete Formenprogramm gewissermaßen einen neoliberalen Imperativ, nach dem man für die möglichst individuelle Einrichtung nicht nur selbst sorgen kann, sondern auch muss.[7] Betont organische Wellenbewegungen sorgten zudem für eine diffus-natürliche Anmutung der Einrichtungsangebote. Eine Fotografie des zu Beginn der 1990er Jahre eröffneten Wiener Hundertwasser-Hauses – titelgebend in die Wohnsituation des Abriss-Videos (Hundertwasser, 2018) integriert – führt diese Tendenz mit ihrem kunstfellbesetzten Kunststoffrahmen auf ambivalente Weise fort. Mit seiner unregelmäßigen Kubatur, der reich verzierten Fassade sowie zahlreichen Türmchen und Balkönchen gilt der Bau auch als rückwärtsgewandtes Manifest gegen modernen Rationalismus und zugleich als öffentliches Zeichen von Hundertwassers Popularität – nicht zuletzt aufgrund eines äußerst erfolgreichen Vertriebs entsprechend dekorierter Papeterie-Artikel. Während derlei Organik an vielen Stellen einen Verniedlichungseffekt mit sich bringt, lässt sich in anderen Teilen des Interieur-Ensembles auch das Gegenteil beobachten. So sind Hundertwasser-Fotografie und Abriss-Video in eine Wohnsituation eingebettet, zu der auch eine grotesk vergrößerte Sessel-Hand[8] sowie ein monumentales Uhren-Regal gehören (Abb. 2). Die überzeichnenden Maßstabsverzerrungen rufen Comic-artige Effekte hervor – unterstützt von zahlreichen tanzenden Figuren im Kleinformat, die den Ausstellungsparcours bevölkern und an beliebte Clipart-Illustrationselemente damaliger PC-Software erinnern. Ähnlich dynamisch bewegen sich auch silbern glänzende Fantasie-Signaturen über die Tapeten der in den White Cube temporär eingebauten Zwischenwände – ein tanzender Reigen handschriftlich anmutender Zeichen als Hintergrund der erwähnten Einrichtungsvorschläge. Einige ähneln Buchstaben, andere wirken eher unbestimmt und zugleich wie selbstbewusste Gesten eines individuellen Ausdrucks, den man als Tapete erwerben und beliebig zusammensetzen konnte. Im Gegensatz zu den massiven weißen Wänden des Oberlichtsaals erwecken die tapetentragenden Zwischenwände in ihrer schmalen Materialstärke einen geradezu fragilen Eindruck. Überdies ist deren freistehend-diagonale Lage inmitten des Raumes auf diskrete Stabilisierungen zur Decke hin angewiesen. Der vorhandene White Cube wird auf diese Weise in mehrere Sektoren unterteilt, in denen unterschiedliche Wohn- und Schlafinterieurs angedeutet, jedoch nie vollständig möbliert sind. Im Gegenteil: Schrankwände und Sideboards wirken – abgesehen von einzelnen Dekorationselementen – fast ausgeräumt. In einer lockeren Anordnung werden verschiedene Perspektiven quer durch den Raum gewährt, manchmal sind Möbel oder Accessoires auch singulär hervorgehoben. Während funktionale Zusammenhänge sowie einige sorgsam platzierte Dekorationsobjekte durchaus Ausstellungspraktiken von Möbelhäusern aufnehmen, weisen sowohl die extreme Preisspanne der präsentierten Interieurs zwischen anonymer Massenware und teuren Markenanbietern als auch das eigentümliche Verhältnis zwischen Ein- und Ausräumen eher in Richtung institutionskritischer Diskurse.
Dabei kommen immer Konventionen des Ausstellens – ob nun von Waren- oder Kunstpräsentationen – zum Einsatz; nie wird dagegen ein tatsächliches Bewohnen oder eine alltägliche Nutzung inszeniert. Stattdessen wird etwa der Kontrast zwischen tapezierten, temporären Wandelementen und den perfekt geweißten Wänden des Oberlichtsaals betont, stellenweise sogar durch überlappende Ausläufer eines schwarz-rot-gelb gemusterten Spannteppichs. Die graue Auslegware überschreitet mit den einzelnen Farbbalken der Deutschlandflagge punktuell Grenzziehungen zwischen Interieur-Elementen und White Cube, Installation und Kunstvereinsarchitektur; entlang der Zwischenwände übernimmt ein schmaler Teppichstreifen dagegen die Funktion einer Scheuerleiste. Darüber hinaus deutet die unregelmäßig gezackte Form des Teppichbodens eine Kartografie an: Tatsächlich handelt es sich dabei um die Grenzen des wiedervereinigten Deutschlands, das entlang der beiden temporären Zwischenwände nun wieder in zwei Hälften geteilt wurde.[9] Von welcher Seite her man sich auch nähert: Permanent überschneiden sich bei Naumann ästhetische, gesellschaftliche und zeitliche Codierungen. Den besonderen Blick auf gesellschaftliche Fragen des Ein- und Ausräumens teilt Naumanns Arbeit durchaus mit den oben bereits exemplarisch genannten Positionen von Pop Art, Institutioneller Kritik und Relationaler Ästhetik. Allerdings tendieren diese im Allgemeinen zur zeitlichen Parallelität mit ihrer Gegenwart – ob nun in Gestalt von Surrogaten sowie ikonischer Überzeichnung in der Pop Art, Aufklärung über gesellschaftliche Machtverhältnisse in institutionskritischen Praktiken oder der Verwirklichung bestimmter sozialer Orte in der Relationalen Ästhetik. Dagegen überlagern sich bei Naumann vor allem diverse Ungleichzeitigkeiten des Einrichtens, etwa moderne und postmoderne Formen, ein auf das Jahr 2000 gerichteter Futurismus der 1990er Jahre mit Fragmenten nationalsozialistischer Ideologie und nicht zuletzt der Blick darauf aus der zeitgenössischen Perspektive des Jahres 2019.
Jener provokative Charakter, den einige Stimmen dem postmodernen Mobiliar im Kunstverein Hannover zugeschrieben haben, wird nicht nur von einem bestimmten – und aus heutiger Sicht als geschmacklich fragwürdig beurteilten – Formenvokabular hervorgerufen. Vielmehr wiederholt sich jener verzögerte und auf verschiedene Weisen unzeitgemäße Einbruch der Postmoderne in das Gebiet der ehemaligen DDR zu Beginn der 1990er Jahre gleichsam an unzähligen Stellen der Installation, unter anderem durch die erwähnten raum-zeitlichen Überlagerungen. Es ist der zeitliche, ästhetische und gesellschaftliche Schockmoment nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks, der in dieser Gemengelage wieder zu erfahren ist – ein Schock des Unzeitgemäßen, von dem bis heute etwa als Nachholbedarf im Sinne eines Nachahmens und letztlich als andauernde Verspätung des Ostens zu hören ist (Krastev/Holmes 2019). Mit dem Beitritt der DDR zur BRD, der 1990 im Berliner Kronprinzenpalais durch die Unterzeichnung des Einigungsvertrags besiegelt wurde, fand zugleich auch ein Beitritt zur postmodernen Alltagskultur statt, die systembedingt in Jena, Chemnitz und Zwickau vor 1990 nur in Nischen existiert hatte. Ein Beitritt, der als historischer Nachrichten-Clip auch in Naumanns Video Das Reich (2017) auftaucht – gerahmt von einem monströsen Sideboard-Tor im prähistorischen Stein-Look.
Post-postmoderne Ungleichzeitigkeiten. Eine Nachbemerkung mit Jacques Rancière
Im wiedervereinigten Deutschland treffen 1990 zwei völlig unterschiedliche Auffassungen aufeinander, wie sich Ästhetik und Gesellschaft zueinander verhalten. Man könnte in dieser Hinsicht von zwei Regimes sprechen: von einem modernen im Sinne eindimensionaler historischer Linearität sowie von einem, das auf postmoderner Pluralität beruht. Durch die Moderne ist nach Rancière jenes fortdauernde ästhetische Regime der Künste entstanden, das eine Aufhebung der Kunst weder im politischen Aktivismus noch in einer hermetischen Abgeschiedenheit zulässt. So unverzichtbar man Rancières Erinnerung an das unkündbare Wechselverhältnis von Kunst und Gesellschaft in geteilten Räumen auch beurteilen mag, so problematisch erscheint – insbesondere vor dem Hintergrund von Naumanns Arbeit – sein eindimensionales Verständnis moderner Ästhetik ebenso wie seine Unterschätzung postmoderner Ästhetik. Dass die beiden letztgenannten Sichtweisen in Kunstdiskursen noch immer häufig anzutreffen sind, haben nicht zuletzt die Reaktionen auf Naumanns Ausstellung im Kunstverein Hannover gezeigt: wenn etwa das moderne Erbe der DDR kaum Erwähnung findet oder postmodernes Design lediglich als „schmerzlich[e] […] Designsünde“ abqualifiziert wird.
Im Gegensatz zu Rancières Verständnis eines modernen ästhetischen Regimes der Künste, das statt repräsentierender Festlegungen ein dynamisches Wechselverhältnis bevorzugt, tauchen bei Naumann unter anderem zwei Perioden einer deutschen Moderne auf, die im Interesse einer totalitären Agenda jeweils nur einen bestimmten Kanon repräsentierender Gestaltung duldeten: der Nationalsozialismus und die DDR. Auch wenn während dieser Zeiten durchaus widersprüchliche Formen nebeneinander existierten, war ein ästhetischer Kanon im Dienst der jeweiligen Teleologie offiziell festgelegt. Damit kommen auch die totalitären Kehrseiten jenes Strebens nach Gleichheit zum Vorschein, das Rancière als Kern des ästhetischen Regimes der Moderne formuliert hat. Es handelt sich dabei um eine Gleichheit, die in der totalitären Bevorzugung eines historischen Ziels anderes kategorisch ausschließt und damit letztlich Ungleichheiten schafft. Ausgeräumte White Cubes zeugen auch heute noch von jenem anderen Gesicht moderner ‚Befreiung‘.
So bestimmend Rancière den Einfluss des ästhetischen Regimes der Moderne bis zur Gegenwart einschätzt, so wenig spielt Postmoderne als mögliche Zäsur für Beziehungen zwischen Ästhetik und Gesellschaft eine Rolle. Wenn überhaupt, so werden programmatische Positionen postmoderner Kunst im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit einer „simplen Teleologie“ der Moderne geschätzt – gewissermaßen als retrospektives Bewusstwerden der Moderne, als „verspätete Anerkennung einer grundlegenden Gegebenheit“ (Rancière 2008, S. 47). Ansonsten betrachtet Rancière postmoderne Tendenzen eher als Risiko, das Feld des Ästhetischen zugunsten von gesellschaftlicher Aufklärung oder eines Verschmelzens mit dem Alltäglichen völlig zu verlassen (Rancière 2007, S. 11).
Jene universelle Gleichheit, auf die sich Rancière als andauernde Bedingung eines ästhetischen Regimes beruft,[10] lässt sich in Naumanns Installationen nur an einzelnen Stellen finden – und dort nicht ohne die Schaffung neuer Ungleichheit. Eine wuchernde Vielfalt post-postmoderner Schrankwände und gemusterter Oberflächen überlagern den rahmenden White Cube. Die verspätete, nachträgliche Postmoderne, wie sie in den 1990er Jahren in Filialen westdeutscher Möbelhäuser ausgestellt wurde, war auf dem Gebiet der ehemaligen DDR quasi über Nacht zum gesellschaftlich-ästhetischen Gebot geworden, das nicht zuletzt durch entsprechend gestaltete Angebote erlernt werden sollte. Insofern spielte jene nachträgliche Postmoderne, wie sie 1990 in den sogenannten neuen Bundesländern ankam, dort eine völlig andere Rolle als die postmoderne Alltagskultur des Westens zur selben Zeit. Doch geht es hier nicht nur um Nachträglichkeit im Osten. Immer wieder geraten – unter anderem in Das Reich (2017) – westliche Fragmente nationalistischer Phantasmen einer längst vergangen geglaubten deutschen Moderne in den Blick: etwa in Manifesten sogenannter Reichsbürger, der Symbolik des Berliner Kronprinzenpalais als medial vermitteltem Ort des Einigungsvertrages oder in Bemerkungen führender Politiker, wie etwa Wolfgang Schäubles Kommentar über die Zumutung einer finalen Anerkennung der deutschen Ostgrenze zu Polen im Rahmen der Einheit. So finden sich in Naumanns Arbeit zusätzlich zu den genannten Überlagerungen weitere zeitliche Komplikationen in Gestalt unterschiedlicher Moderne- und Postmoderne-Auffassungen, die sich nicht auf übliche historische Chronologien westlicher Provenienz festlegen lassen.[12] Zwischen Videoclips und Teppichboden, Schrankwand und White Cube, Ein- und Ausräumen reißen nicht nur ästhetische und zeitliche Gräben auf; es geraten auch übliche Zuordnungen vermeintlich universeller Moderne- und Postmodernekonzeptionen ins Wanken. Dies wirft nicht zuletzt kritische Fragen an Kunstkritik und Ästhetik auf, die sich nach wie vor an einer westlich geprägten Teleologie von Moderne und Postmoderne orientieren. Vielleicht kann das zu Beginn erwähnte Schaudern angesichts post-postmoderner Zumutungen auch als Symptom zeitlich-räumlicher Komplikationen verstanden werden – hervorgerufen von diversen simultanen Bewegungen moderner Gleichheit und postmoderner Pluralität zwischen Interieur und White Cube.
[1] Zu einer programmatischen Postmoderne, die sich vor allem gegen eindimensionale Rationalität sowie Funktionalität wendete, zählen etwa das italienische Radical Design (vgl. Sparke 1989) oder das Neue Deutsche Design (vgl. Albus/Borngräber 1993).
[2] Meine Recherche dazu basiert auf einschlägigem Dokumentationsmaterial, Publikationen und Rezensionen zur Ausstellung. Darüber hinaus gewinnt man durch Filmaufnahmen auf Naumanns Website einen guten räumlichen Eindruck der Werkgruppe 2000, hier ausgestellt vom 11.3. bis zum 10.6.2018 im Museum Abteiberg Mönchengladbach; siehe den virtuellen Rundgang durch die Ausstellung auf Naumanns Website, henrikenaumann.com/02zweitausend.html (4.7.2023).
[3] Eine Entwicklung, die Charlotte Klonk unter anderem parallel zu Interieurs von Marcel Breuer beschrieben hat. Diese Verbindungen lassen sich auch durch persönliche Beziehungen in Justis Umfeld nachvollziehen: So ließ Eduard von der Heydt, der zum Gönnerkreis der Neuen Abteilung der Berliner Nationalgalerie im Kronprinzenpalais gehörte, 1929 von Breuer das Interieur seines Berliner Domizils gestalten (Klonk 2009, S. 103ff.).
[4] Gründungsdirektor Alfred J. Barr hatte im Vorfeld bei Reisen nach Deutschland unter anderem das Bauhaus in Dessau ebenso wie Justis Umgestaltung des Berliner Kronprinzenpalais besucht und zeigte sich dabei ausdrücklich an den Verbindungen zwischen Kunst- und Wohnraumgestaltung interessiert (Klonk 2009, S. 135).
[5] Nationalsozialistischer Untergrund nannte sich eine rechtsterroristische Gruppe, die gegen Ende der 1990er Jahre um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Thüringen und Sachsen entstand und bis 2011 dort aktiv war.
[6] Die Abwanderung Richtung Westen war bereits zu DDR-Zeiten ein großes Problem, verstärkte sich jedoch um 1989/1990 massiv (Martens 2020).
[7] Andreas Reckwitz hat diese Aufforderung zu individueller Kreativität als „gesellschaftlichen Imperativ“ beschrieben (Reckwitz 2012, S. 181).
[8] Die Sessel-Hand bezieht sich in leicht veränderter Form deutlich auf den postmodernen Designklassiker Joe, 1970 entworfen von Jonathan De Pas, Donato D’Urbino und Paolo Lomazzi für den italienischen Hersteller Poltronova, der das Möbel bis heute im Sortiment führt.
[9] Naumanns Installation greift hier auf eine nicht realisierte Projektidee für die Ausstellungsgestaltung der Expo 2000 zurück.
[10] Rancières Festhalten am modernen Paradigma prinzipieller Gleichheit wurde bereits vielfach kritisiert (vgl. Kastner 2012, S. 72), aber auch immer wieder gegen Kritik verteidigt (vgl. Kleesattel 2016, S. 35–40). Ruth Sonderegger hat die Kontroverse um Rancières Gleichheitsparadigma für eine postkoloniale Dezentrierung des Kritik-Begriffes wieder aufgegriffen (vgl. Sonderegger 2019, S. 223).
[11] „Wir mußten uns mit der Oder-Neiße-Grenze abfinden.“ – so Schäuble in einer Rede vor Vertriebenen-Verbänden am 9.7.1995, damals als Vorsitzender der regierenden CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
[12] Damit möchte ich auch einen Widerspruch zur von Susanne Titz formulierten Position einlegen, in Naumanns Arbeit gehe es überhaupt nicht spezifisch um die Situation Ostdeutschlands (Titz 2019). Obwohl ich jenem Teil ihres Arguments uneingeschränkt zustimme, dass hier die gesamtdeutsche Postmoderne der 1990er Jahre (und auf diese Weise auch die entsprechende Alltagskultur des Westens) thematisiert wird, spielen die besonderen Umstände der 1990er Jahre im Osten durchaus eine Schlüsselrolle, was auf eindrückliche Weise etwa im Werkkomplex 2000 zu beobachten ist.
Literatur
Albus/Borngräber 1993
Albus, Volker; Christian Borngräber (Hg.): Design Bilanz. Neues deutsches Design der 80er Jahre in Objekten, Bildern, Daten und Texten, Köln: DuMont 1993.
Bauman 2012
Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz – das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg: Hamburger Edition 2012.
Briegleb 2019
Briegleb, Till: Wie sich Geschichte in Möbeln spiegelt, in: Süddeutsche Zeitung, 10.7.2019.
Die Welt, 1995
Welt-Nachrichtendienst: Polen soll Minderheitenrechte achten, in: Die Welt, 10.7.1995.
Eckstein 1931
Eckstein, Hans: Die schöne Wohnung, München: F. Bruckmann 1931.
Giedion 1929
Giedion, Sigfried: Befreites Wohnen, Zürich: Orell Füssli 1929.
Harvey 1990
Harvey, David: Flexible Accumulation through Urbanization: Reflections on „Post-Modernism“ in the American City, in: Perspecta, Bd. 26, 1990, S. 251–272.
Jencks 1977
Jencks, Charles: The Language of Post-modern Architecture, London: Academy Editions 1977.
Joachimides 2001
Joachimides, Alexis: Die Museumsreformbewegung in Deutschland und die Entstehung des modernen Museums 1880–1940, Dresden: Verlag der Kunst 2001.
Kastner 2012
Kastner, Jens: Der Streit um den ästhetischen Blick. Kunst und Politik zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière, Wien/Berlin: Turia + Kant 2012.
Kleesattel 2016
Kleesattel, Ines: Kunst-Kritik. Zwischen Rancière und Adorno, Wien: Turia + Kant 2016.
Klonk 2009
Klonk, Charlotte: Spaces of experience. Art gallery interiors from 1800 to 2000, New Haven (CT): Yale University Press 2009.
Krastev/Holmes 2019
Krastev, Ivan; Steven Holmes: Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung, Berlin: Ullstein 2019.
Martens 2020
Martens, Bernd: Der Zug nach Westen – Jahrzehntelange Abwanderung, die allmählich nachlässt, in: Bundeszentrale für politische Aufklärung (Website), 7.5.2020, www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47253/zug-nach-westen (21.10.2021).
Meltzer 2020
Meltzer, Burkhard: Das ausgestellte Leben. Design in Kunstdiskursen nach den Avantgarden, Berlin: Kadmos 2020.
O’Doherty 1996
O’Doherty, Brian: In der weißen Zelle/Inside the White Cube (1986), hg. v. Wolfgang Kemp, Berlin: Merve 1996.
Rancière 2007
Rancière, Jacques: Das Unbehagen in der Ästhetik, hg. v. Peter Engelmann, Wien: Passagen 2007.
Rancière 2008
Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen, hg. v. Maria Muhle, Berlin: b_books 2008.
Rebentisch 2013
Rebentisch, Juliane: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: Junius 2013.
Reckwitz 2012
Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp 2012.
Sonderegger 2019
Sonderegger, Ruth: Vom Leben der Kritik. Kritische Praktiken – und die Notwendigkeit ihrer geopolitischen Situierung, Wien: zaglossus 2019
Sparke 1989
Sparke, Penny: Anti-Design, in: dies. (Hg.): Die Krise des Objekts. Italienisches Design von 1870 bis heute, Braunschweig: Westermann 1989, S. 182–197.
Stakemeier 2018
Stakemeier, Kerstin: Ausschusskriterien. Kerstin Stakemeier über Henrike Naumann im Museum Abteiberg, Mönchengladbach, in: Texte zur Kunst, H. 111, 2018, S. 214–217.
Taut 2001
Taut, Bruno: Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin (1924), Berlin: Gebrüder Mann Verlag 2001.
Titz 2019
Titz, Susanne: Den Osten gibt’s nicht, in: Leipziger Volkszeitung; Museum Abteiberg Mönchengladbach; Kunstverein Hannover (Hg.): Henrike Naumann: 2000, Ausst.-Kat., Kunstverein Hannover, 13.7.–25.8.2019, Leipzig: Spector Books 2019, S. 24–34.