Erschienen in: Parkett 82, Zürich/New York 2008.
Susan Philipsz` raumgreifende Hörstücke
Alle zehn Jahre [1] wird die deutsche Stadt Münster von neuen künstlerischen Projekten besiedelt. Der weitläufige Park um den Aasee gehört zu den Gegenden, die besonders gern für künstlerische Eingriffe im Stadtraum genutzt werden. Vorbei an den Bauten früherer Skulpturprojekte schlendert man einen Uferweg entlang, bis unter die massiven Stahlbetonpfeilern der Torminbrücke – einer Autobrücke, deren aneinander gekoppelte Bögen den idyllischen Park mit einem Vorort verbinden. Hier grüne Weite, dort die niedrigen Plattenbauten einer Schlafstadt. Gern würde man diese unerfreuliche Sicht so schnell wie möglich wieder hinter sich lassen, wären da nicht zwei betörende Stimmen unter der Brücke zu hören. Von beiden Seiten klingt aus den Lautsprechern ein Stück aus Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ über das Wasser. Im Liedtext vom verlorenen Spiegelbild erzählt E.T.A. Hoffmann von der schönen Kurtisane Giulietta aus Venedig, die Männer dazu verführt, ihr Spiegelbild zu verschenken. Tragisch nur, dass weder Frau noch Kinder sie je wieder erkennen werden. «Time is fleet and bears away the passions that possess us, far from this enchanted shore returning never more.»[2] – Susan Philipsz singt beide Stimmen, die von Giulietta und einem ihrer Liebhaber.
Susan Philipsz arbeitet mit einem besonders flüchtigen Material: ihrer eigenen Stimme. Allerdings wird der Gesang selten live vorgetragen, sondern meistens aufgezeichnet und durch einfache Lautsprecher in Aussen- oder Innenräumen wiedergegeben. Zu den Fundstücken aus der Musikgeschichte kommen manchmal noch ein paar Umgebungsgeräusche hinzu. Ob romantische Arie, politisches Lied oder Ohrwürmer der Popmusik – Philipsz greift bekannte Melodien und Texte auf und interpretiert sie in einer A-Capella-Version. Die Künstlerin bemüht sich nicht um ausgefeilte Interpretationen, sie verzichtet sogar auf jegliches Arrangement instrumentaler Begleitung. Vielmehr trägt sie mit fester Stimme gesungene Geschichten in englischer Sprache vor, die durch Resonanz im Raum eine körperlich spürbare Präsenz erzeugen.
Die besondere Akustik der Arbeit vom verlorenen Spiegelbild (THE LOST REFLECTION, 2007) zwischen Brückenbogen und Wasserfläche erzeugt ein Echo, das mit beiden Stimmen zwischen den Ufern hin- und her jongliert. Unweigerlich nimmt man mit dem Schall auch eine visuelle Information auf. Auch wenn man sich nur aufs Gehör verlässt, ist klar: Dieser Raum ist vermutlich leer und wahrscheinlich verfügt er über eine gewisse Ausdehnung. Denn nur in grösseren, leeren Räumen kommt ein kräftiger Widerhall zu Stande und jeder Gegenstand würde die Ausbreitung der Schallwellen behindern. So tritt der Ort durch das Gehör in Erscheinung. Das Echo entfaltet – frei von einer sichtbaren Gestalt – eine Präsenz im Raum, die starke visuelle Vorstellungen freisetzt. Seinen Namen trägt der Widerhall nach der gleichnamigen griechischen Sagengestalt, die auf tragische Weise ihren Körper verliert. Nachdem sie Jupiter bei seinen sexuellen Eroberungen behilflich war, wird Echo von der Göttergattin Juno mit dem Verlust ihrer eigenen Stimme bestraft. Fortan wird sie nur noch die beiden letzten Worte wiederholen können, die an sie gerichtet werden. Bald darauf bringt sie ihre unglückliche Liebe zu Narcissus auch noch um den eigenen Leib: Echo verzehrte sich so lange nach dem selbstverliebten Jüngling, bis nur noch ihre Stimme übrig blieb.[3] Als körperlos Anwesende sollte sie künftig ihr Dasein fristen. Ob sich gerade jemand im Raum aufhält oder nicht – das Echo von Stimmen sorgt immer für eine eigentümliche Präsenz[4]. Seitdem das Speichern und Übertragen von Ton selbstverständlich ist, lässt sich diese Art von Anwesenheit problemlos herstellen. In der Kunsthalle Malmö, auf mehreren tausend Quadratmetern, liess Philipsz 2005 drei Songs über Lautsprecher abspielen. Ausser einem Begleittext an der Wand wurde den weissen Hallen kein visueller Reiz hinzugefügt. «Watch With Me», fordert uns der Titel auf, den die Künstlerin für die Ausstellung aufgenommen hat. In der räumlichen Reflektion des Liedes arbeitet Philipsz gleichzeitig mit den Effekten von Echo und Absorption: Einmal werden die Schallwellen ihrer eigenen Stimme in den Raum zurückgeworfen und zum anderen von den Besuchern «absorbiert». Dieses doppelte Spiel führt in den weissen Innenräumen von Kunstinstitutionen zu einem übersteigerten Dasein des Raumes und der Stimme, die ihn besingt.
Im Widerhall von Philipsz’ gesungenen Erzählungen werden nicht nur Räume von Klängen nachgezeichnet, der sichtbare Raum kommentiert umgekehrt auch die hörbare Musik. Entsteht daraus etwa ein neues Gesamtkunstwerk, das die Kunstgattungen synthetisch unter einem gemeinsamen Ziel vereint? Seit dem 19. Jahrhundert wurde dieses Konzept namentlich durch den Komponisten Richard Wagner bekannt, der Musik, Sprache und Raumgestaltung in eine untrennbare Einheit überführen wollte. So ruft der tragische Opernheld Tristan[5] kurz vor seinem Tod in den Bühnenraum hinein: «Wie – hör ich das Licht?» Die Vermutung Wagners, dass alle Sinne immer gleichzeitig wahrnehmen und somit keine Hierarchie zwischen den Eindrücken existiert, wurde nicht zuletzt durch die neurophysiologischen Erkenntnisse der vergangenen Jahrzehnte bestätigt.[6] Der Ausstellungsmacher Harald Szeemann fügte 1983 dem Begriff des Gesamtkunstwerkes noch eine gesellschaftliche Dynamik hinzu: Wenn alle Sinne gleichzeitig an der Veränderung des Bewusstseins arbeiten, könnte damit auch ein Weg für utopische Gedanken vorbereitet werden.[7] Als synthetisierendes Erlebnis und Freiraum im gesellschaftlichen Sinne nutzt auch Susan Philipsz Sprache, Musik und Orte für ihre Arbeit. Jedoch lässt sich dabei kaum von einem Gesamtkunstwerk im Sinne von Wagner oder Szeemann sprechen – zu sehr gibt die Künstlerin ihre Kontrolle über Einflüsse des Ortsbildes und der Übertragungswege ab.
«Watch one hour with me / Stay just a way by my side / … / I won`t ask you to stay long with me / Just help me find my mind.»[8] Die Stimme lädt ein, eine Zeit lang zu verweilen und beendet die Strophe mit der vagen Hoffnung, darin ihren Verstand (wieder) zu finden. Man gewinnt trotz dieser allgemeinen Aussagen den Eindruck, einer persönlichen Erzählung zuzuhören und einer Person ganz nahe zu sein. Das liegt nicht zuletzt an der Realzeit-Aufnahme, die Atempausen und kleinere Fehler nicht verbirgt. Im Gegenteil – gerade das Luftholen und die kurzen Pausen stellen gleichsam an öffentlichen Orten einen privaten Raum her. Philipsz zeichnet ihre Arbeiten meistens auf und spielt sie von einem Speichermedium über Lautsprecher ab. Der bisher einzige Live-Gesang wurde 1997 und 2004 in Tesco-Supermärkten von Manchester und London über eine Verstärkeranlage in die Verkaufsräume übertragen. Üblicherweise rieselt dort angenehme und möglichst verkaufsfördernde Musik auf die Konsumenten nieder. Stündlich wird die akustische Kulisse jedoch durch einen Gesang ohne instrumentalen Klangteppich unterbrochen: «Now the drugs don’t work / They just make you worse…» singt die Stimme der Künstlerin aus den Lautsprechern von der Decke herab. Die traurige Ballade The Drugs Don`t Work der Britpop-Band The Verve landete 1997 sofort nach ihrer Veröffentlichung auf Platz eins der britischen Charts und gehörte damit zu den bekanntesten Songs jenes Jahres. Gerade weil die Arbeit METROPOLA jene medialen Kanäle nutzt, die in ihrem alltäglichen Betrieb möglichst verdeckt operieren, berührt die ungewohnt menschliche Stimme aus dem Supermarkt-Lautsprecher umso mehr ein Scheitern inmitten der erfolgsverprechenden Welt des Konsums. Die Stimme verspricht nichts, sie bietet nichts an, sie fordert nichts. Auf einmal ist sie da. Anwesend. Obwohl körperlich abwesend, wirkt die Künstlerin gleich einem Echo durch ihre Stimme immer präsent.
Unter einer Brücke, in einer Kunsthalle oder einem Supermarkt kann man den Liedern von Susan Philipsz begegnen, die gezielt Verbindungen zwischen sprachlichem und visuellem Gedächtnis anregen. Und während man noch der Stimme zuhört, hat sich das Bild des Ortes unterdessen verändert: Im Hintergrund fährt ein Lastwagen vorbei, andere Besucher bringen neue Laute mit, im Supermarkt werden Regale gefüllt. Dieser Effekt spielt ebenso mit einer konkreten geographischen Situation wie auch mit wachgerufenen Erwartungen und Bildern aus dem Gedächtnis der Besucher. Im Berliner Büro Friedrich entwirft Susan Philipsz die verstörende Situation (THE GLASS TRACK, 2005) eines fast leeren Ausstellungsraumes, der nur von Aussenlicht erhellt ist. Aus vier Lautsprechern ist das Geräusch von unterschiedlich gefüllten Weingläsern zu hören, deren Kanten aneinander gerieben werden. Schliesslich bemerkt man die ausgetrunkenen Gläser des Eröffnungsabends, die noch in den Ecken des Raumes herum stehen. An der Wand ist ein Text des legendären Konzeptkünstlers Robert Barry zu lesen, der sich in seinem Werk vor allem mit den Grenzen von Präsenz und Sichtbarkeit in der Kunst beschäftigt: «A place to which we can come and for a while be free to think about what we are going to do». Eine besondere Art von Anwesenheit entsteht vor allem durch die scheinbar leeren visuellen Kanäle, durch die Susan Philipsz zwar keine Signale sendet, aber dennoch starke Vorstellungen bei ihrem Empfänger provoziert. Man könnte diese Methode sogar als «photographische Tonspur» bezeichnen, die zwischen Oper, Hörspiel und einem durch Filme geprägten Bildgedächtnis immer wieder auftaucht. Heute spielen Musik und Sprache als räumliche und performative Phänomene zunehmend eine wichtige Rolle in der zeitgenössischen Kunst.[9] Viele Werke wenden sich dabei dem Format einer zeit- und raumbezogenen, theatralischen Aufführung zu.[10] Philipsz thematisiert gerade das, was nicht da ist – die Show, das Publikum, ein Multimedia-Spektakel. Es ist nicht zu übersehen: Dort, wo die Aufführung eines Gesamtkunstwerkes zu Ende gegangen ist, beginnen die Arbeiten von Susan Philipsz.
Anmerkungen
[1] Skulpturprojekte Münster, 16.6.2007 – 30.9.2007, seit 1977.
[2] Jacques Offenbach, Hoffmanns Erzählungen, Uraufführung 1881.
[3] Ovid, «Narcissus und Echo» in Metamorphosen, Artemis & Winkler-Verlag, Zürich 1998.
[4] Susan Philipsz über ihre Arbeit, in Susan Philipsz, Stay With Me, Malmö Konsthall, 2005, S. 15.
[5] Richard Wagner, Tristan und Isolde, Uraufführung 1865.
[6] Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 1997.
[7] Harald Szeemann (Hrsg.), Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800, Kunsthaus Zürich, Sauerländer-Verlag 1983.
[8] Song von Joe Wise, 1972
[9] Burkhard Meltzer, «Make it happen – Johanna Billings musikalische Gemeinschaftsprojekte», in Kunstbulletin, Zürich, 11/2007.
[10] vgl. Erika Fischer-Lichte (Hrsg.), Sammelband zum Forschungsprojekt Diskurse des Theatralen, Francke-Verlag, Tübingen und Basel 2005.