Erschienen in: Kunstbulletin, 11/2007, Zürich.
Was bringt Menschen dazu, etwas gemeinsam zu bewegen? Dieser Frage geht die schwedische Künstlerin Johanna Billing in ihren Film- und Musikprojekten nach. Parallel zu ihrem Auftritt auf der documenta12 ist derzeit eine umfangreiche Soloausstellung im Museum für Gegenwartskunst Basel zu sehen.
Johanna Billings musikalische Gemeinschaftsprojekte
1. Where She Is At / 2. Magic & Loss / 3. Another Album / 4. You Don’t Love Me Yet / 5. Magical World / 6. Look Out! / 7. Project for a Revolution / 8. This Is How We Walk on the Moon
Die Werkliste der Ausstellung könnte auch eine «Playlist» sein. Eine bestimmte Reihenfolge von Musiktiteln, die sich wie eine MP3-Liste im Abspielgerät immer wieder neu zusammenfügen lässt. Immer noch schwirren einzelne Songs in Ohren herum, die vor ein paar Tagen im Basler Museum für Gegenwartskunst zu hören waren. Gleichsam als Loop wiederholen sich verschiedene Musik- und Bildsequenzen aus den Videoarbeiten von Johanna Billing im Gedächtnis.
Popmusik und soziale Kräfte
Popmusik kann starke soziale und suggestive Kräfte freisetzen. Billing nutzt diese Qualitäten als Dramaturgie und zugleich als Drehbuch für ihre filmischen Arbeiten. Songs wie «Magical World» oder «You Don’t Love Me Yet» sind oft Ausgangspunkt der Geschichten, ihre Wiederaufführung wird geprobt, live aufgeführt oder im Studio eingespielt. Nicht zufällig beruht die Arbeit der schwedischen Künstlerin so stark auf dem Musikmachen: Gemeinsam mit ihrem Bruder Anders hat Johanna Billing seit 1998 ein Record-Label unter dem Namen «make it happen» aufgebaut. Der Name benennt auch schon das Programm ihrer künstlerischen Aktivitäten: Zusammen mit anderen Leuten die Voraussetzungen schaffen, dass etwas «geschehen» kann. Unversehens findet man sich dabei auf dem Terrain utopischer Gedanken wieder, durch gemeinschaftliche Aktionen etwas zu verändern. Diese Idee beschäftigt ein ganzes Musikgenre und verspricht dadurch nichts Geringeres als die Hoffnung auf ein besseres Leben. Im Extremfall wird das von Pop-Grössen wie Michael Jackson, «We Are The World», oder U2-Sänger Bono für Gutmenschen-Marketing, «Join Bono to help Africa!», genutzt. Billing schafft jedoch weder geschlossene Utopie-Labore noch PR-Strategien, sondern versucht, einen Umgang mit den Widersprüchen in gesellschaftlichen Umbruchsituationen zu finden.
Davon erzählt auch die 26-minütige Videoarbeit «Another Album». Wir befinden uns auf der idyllischen Insel Krapanj vor der kroatischen Küste. In einem Ferienhaus mit mediterraner Atmosphäre treffen sich regelmässig junge Leute, um gemeinsam jugoslawische New-Wave-Musik aus den 70er und 80er Jahren zu spielen. Die «Wiederaufführung» der Songs erinnert an eine informelle Jam-Session: Im Garten vor dem Haus beginnt jemand zu singen und auf der Gitarre einige Akkorde zu testen. Andere warten zunächst ab, welche Melodie zu erkennen ist. Dann steigen zwei ein, singen einige Takte mit. Nach einer Strophe verliert sich der Text wieder, der nächste Song wird schon ausprobiert. Als Klangkulisse des Sommerabends vibrieren zahlreiche Stimmen, Grillen und Küchengeräusche. Doch die harmonische Ferienstimmung ist nur ein Teil der Erzählung. Offensichtlich versucht hier eine junge Generation nach den Kriegsjahren wieder Anschluss an eine gemeinsame kulturelle Vergangenheit zu finden.
Kollektiver Lernprozess
An jenem Abend im Juli 2006 geht es auch um einen kollektiven Lernprozess, der durch die Teilnahme aller Protagonisten mitgestaltet wird. Durch Zuhören und Aufeinander-Reagieren entstehen die Bedingungen dafür, dass ein gemeinschaftlicher Prozess überhaupt ausgelöst werden kann – ganz im Sinne von «make it happen.» Oft scheinen die Teilnehmer erst einmal auf etwas zu warten, zunächst ist kein vorbestimmter Handlungsablauf zu erkennen. Trotzdem fühlt man sich als Betrachter schon in den ersten Minuten wie ein Komplize des Filmgeschehens und verfolgt die Ereignisse mit grosser Aufmerksamkeit. Billings Kamera lenkt nicht als dirigierendes oder allwissendes Medium durch die Filme, sondern nimmt oft eine beobachtende Perspektive ein. Manchmal scheint es sogar, als würde sie am Geschehen teilnehmen. Die Rolle des involvierten Regisseurs, der sich selbst als Teil der Filmhandlung betrachtet, lässt an John Cassavetes denken. Von den späten 50ern bis in die 80er Jahre verstand der Pionier des US-amerikanischen «Independent Cinema» seine Filme als Prozess einer Gruppenarbeit, die jeden Protagonisten zunächst gleichwertig behandelt. Das wird in der ungewöhnlichen Kameraführung deutlich: Handlungen sind kaum vorhersehbar, mal brechen Szenen unvermittelt ab, Lichtsituationen wechseln abrupt, gefilmt wird oft mit Handkamera. Cassavetes überlässt es seinen Schauspielern, ihre Rollen zu bestimmen.
Johanna Billing knüpft durchaus an dieses Rollenverständnis an, wenn sie gemeinsame Prozesse zwischen ihren Protagonisten auslöst. Exemplarisch wählt sie eine Situation und bestimmt eine Aufgabe, die es gemeinsam zu bewältigen gilt. Diese Versuche nähren die Hoffnung von einer Gemeinschaft, in der sich der Einzelne frei entfalten kann und doch einen wichtigen Beitrag zu einer gemeinsamen Idee leistet. So begleitet die Kamera in «This Is How We Walk on the Moon» lokale Musiker aus Edinburgh bei einem Segelkurs auf einem Törn vor der schottischen Küste. Rauhe Landschaft und schwarzblauer Himmel kündigen dramatische Ereignisse an. Alle müssen die handwerklichen Griffe und das neue Vokabular erst erlernen und sind dabei aufeinander angewiesen – befinden sich sprichwörtlich in einem Boot. Unsicherheiten und Fehler werden zusammen wieder ausgeglichen. Und tatsächlich: In diesem Moment scheint sich die Vision einer Gemeinschaft zu erfüllen, die individuelle Freiheiten ermöglicht und gleichzeitig auf eine gemeinsame Sache achtet. Als Soundtrack wurde der Song «This Is How We Walk on the Moon» von den Protagonisten für die gleichnamige Arbeit neu eingespielt. Exemplarisch könnte die Vorstellung eines Mondspaziergangs wohl für jede menschliche Motivation stehen, sich in neuem Terrain zu bewegen.
Idee von einer liberalen Gesellschaft
Gruppen, die gemeinsam Herausforderungen bewältigen, sind auch in der Werbung für multinationale Bankkonzerne ein beliebtes Sujet. Nur redet man dann von Team und Erfolg – es geht schliesslich um Profis, die alles im Griff haben. Dem bekannten wirtschaftsliberalen Allgemeinplatz setzt Johanna Billing konkrete gemeinschaftliche Versuche entgegen, die von einer liberalen Gesellschaft im umfassenden Sinne ausgehen und dabei sowohl Eigeninteresse als auch Empathie für Mitmenschen kombinieren. Billings Arbeit verweist jedoch auch auf die begrenzte Wirksamkeit und die Widersprüchlichkeit dieser Ideen, wenn kroatische Kinder aus Dubrava im halb-verwaisten Kulturhaus den Song «Magical World» singen. «Why do you want me to wake me from such a beautiful dream, can’t you see that I am sleeping? I live in a magical world?» Nach den Veränderungen des vergangenen Jahrzehnts ist die Zukunft des Kulturzentrums Dubrava äusserst ungewiss, eine Shoppingmall ist geplant, vielleicht ein Multiplexkino.
Keineswegs wird hier nun eine direkte «Ehrlichkeit» im Sinne des «Independent Cinema» suggeriert. Vielmehr treffen genau geplante Rahmenbedingungen mit unberechenbaren, performativen Elementen zusammen und reflektieren dabei auch die Entstehungsgeschichte der Arbeiten. Daraus resultiert oft auch ein bewusst unfertiger Charakter: «Ich würde das aufgenommene Filmmaterial niemals ablehnen, auch wenn es nicht exakt das war, was ich mir vorgestellt hatte; ich arbeite immer mit dem, was ich erhalten habe.» Billings filmische Arbeit kann damit auch im breiteren Kontext einer jungen Künstlergeneration gesehen werden, die sich virtuos zwischen dokumentarischen und inszenierten Elementen bewe-gen und sich dabei auch auf Vorbilder aus der Filmgeschichte beziehen.
Vielleicht kann sich die Gemeinschaft aus «freien Individuen» ja genau in dem Moment verwirklichen, wenn einige Leute zusammen Musik machen? Die Hoffnungen sind schon geweckt. An vielen Orten fordern Johanna Billing und ihr Bruder Anders im Namen ihres Labels «make it happen» lokale Bands auf, eine Coverversion von «You Don’t Love Me Yet» live zu spielen. Über den nächsten Auftritt kann man sich auf www.makeithappen.org informieren oder einfach die Dokumentation der Konzerte in der Basler Ausstellung anschauen.
«Forever Changes» – die von Philipp Kaiser kuratierte Ausstellung von Johanna Billing im Museum für Gegenwartskunst Basel findet in zwei Teilen statt. Teil I, 8.9.-28.10.2007, Teil II, 30.10.-30.12.2007.