Erschienen in: Sabine Schaschl (Hg.), Um die Ecke denken – Die Sammlung Museum Haus Konstruktiv (1986–2016) und Gastinterventionen, Hatje Cantz, Berlin 2016
Eine rhythmische Folge vertikaler Streifen entwickelt als Fluchtpunkt der Schweizer Ausstellung eine grosse Anziehungskraft auf das Publikum der XI. Triennale di Milano (1957). Die wandhohe Malerei von Richard Paul Lohse (Drei gleiche Themen in fünf Farben) ist zudem direkt am Eingang des Raumes platziert. Von einzelnen horizontalen Feldern unterbrochene Säulen aus Rot, Blau, Gelb, Schwarz und Weiss schaffen eine dynamische Bildstruktur, die gleichzeitig eine räumliche Wirkung entfaltet. Der Architekt und Ausstellungsgestalter Alfred Roth hebt in einem Bericht über die Mailänder Schau die programmatische Rolle der konkreten Kunst für die «Verwirklichung»[1] eines räumlichen Gesamteindrucks hervor. Auch das Ausstellungsdisplay für eine Auswahl an Möbeln, Stoffen, Präzisionsgeräten und anderen Schweizer Produkten, von denen die meisten mit dem Gütesiegel der «Guten Form» [2] ausgezeichnet sind, folgt dem Gestaltungskonzept von Lohses Malerei.
Zwar lassen sich Berührungspunkte zwischen Design und Kunst im Umfeld konkreter Kunst aus Zürich nur punktuell in Ausstellungen beobachten, doch ist der Austausch programmatischer Überzeugungen zwischen beiden Disziplinen vor allem während der 1950er Jahre selbstverständlich. Mehr noch: In der durch Massenproduktion und nach dem Zweiten Weltkrieg auch zunehmend von Überfluss bestimmten Ökonomie eine Ästhetik des Notwendigen zu etablieren, kann als gemeinsame programmatische Quelle für die «Gute Form» des Schweizer Designs und für die konkrete Kunst gelten. Beide kulturellen Strömungen sind sich in ihren Kernfragen sehr nah und werden von den Protagonisten darüber hinaus auch in Personalunion vertreten: Die meisten sind zu dieser Zeit nicht nur als bildende Künstler, sondern auch als Ausstellungsgestalter, Industrie- und Grafikdesigner tätig. Sie treten für eine gestalterische Arbeit ein, die sowohl in der Kunst als auch im Design und der Architektur an Produktionsprinzipien von Industrie und Technik anknüpft. Die industrielle Herstellungslogik wird dabei nicht als Gegner der Kulturwelt adressiert, sondern selbst als Bedingung bzw. Teil eines zeitgenössischen Kulturbegriffs verstanden. Nun sind ähnliche Kooperationen zwischen Kunst, Design und Architektur im Namen eines neuen Gestaltungsbegriffs in den 1950er Jahren durchaus auch an anderen Orten zu beobachten – etwa in der Londoner Independent Group und ihren spektakulären Ausstellungsprojekten. Allerdings spielen einige konkrete Künstler aus Zürich in ihrem Ringen um eine Gestaltung, die den materiellen Bedingungen unserer Existenz entspricht, eine besondere Rolle – auch aufgrund ihrer Jahrzehnte währenden, zum Teil auch internationalen Präsenz. Der vorliegende Text versucht, das Verhältnis zwischen Kunst- und Designkontext im Umfeld der Konkreten anhand einiger Beispiele nachzuzeichnen.
Der Forderung, Kunst möge zu einer «Verwirklichung» beitragen, liegt nichts Geringeres zugrunde als der avantgardistische Anspruch, das Verhältnis zwischen Ästhetik und Lebenspraxis neu zu bestimmen. Was zu Beginn des 20. Jahrhunderts in verschiedenen gestalterischen Reformbewegungen formuliert wurde, findet bei vielen konkreten Künstlern aus Zürich eine Fortsetzung. Kunst soll hier – ebenso wie Architektur, Design und Grafik – auf den Gegebenheiten industrieller und marktwirtschaftlicher Produktionsverhältnisse basieren. Diese pragmatischen Vorzeichen des Machbaren prägen viele Positionen der 1950er Jahre. So betrachten etwa Richard Paul Lohse (u. a. als Grafikdesigner tätig) und Max Bill (u. a. als Ausstellungsarchitekt und Industriedesigner tätig) ihr Engagement für eine neue Gestaltung im Schweizer Werkbund als integralen Bestandteil ihrer künstlerischen Arbeit. Kontakte zu Industrie und Handel dienen indessen – abgesehen vom besseren Absatz moderner Möbel in der Schweiz – auch der Verbreitung künstlerischer, gestalterischer und gesellschaftlicher Ziele. Eine besondere Rolle spielt in Zürich das in den 1930er Jahren gegründete Möbelgeschäft «wohnbedarf». Für Mitbegründer Sigfried Giedion steht das Unternehmen ganz im Zeichen einer Vorstellung vom «Befreiten Wohnen»[3]. Die programmatische Schrift der modernen Bewegung erklärt «LICHT, LUFT, BEWEGUNG, ÖFFNUNG»[4] zu leitenden Prinzipien im neuen Wohnungsbau. Schönheit findet Giedion weniger in der repräsentativen Fassade als im «Zusammenwirken wohlerfüllter Funktionen»[5]. Was in den Gründungsjahren mit der Gestaltung des firmeneigenen Schriftzuges durch Max Bill begann, entwickelt sich insbesondere in den 1950er Jahren zu einer engen Zusammenarbeit zwischen «wohnbedarf» und Protagonisten der konkreten Kunst.[6] Bill etwa entwirft im Rahmen dieser Kooperation u. a. einen Quadratrundtisch (1949) sowie zwei Stühle (den Dreibeinstuhl 1949 und den Kreuzzargenstuhl 1952). Der erste Eindruck vermittelt eine für die 1950er Jahre durchaus typische Atmosphäre – elegant, aber bescheiden; Naturmaterialien – etwas eckig, aber auch rund. Die drei Entwürfe lassen den besonderen konkreten Anspruch erkennen, Strukturen zu konstruieren, die zwischen dem Schönen und dem Notwendigen vermitteln. So besteht der Quadratrundtisch aus einem quadratischen Tischblatt, an dessen Seiten jeweils die Rundung der Kreisform ausgeklappt werden kann. Die Kombination verschiedener Formate in einem Tisch hat keineswegs nur den praktischen Hintergrund, in beschränkten Raumverhältnissen schnell auf veränderte Bedürfnisse reagieren zu können. Vielmehr verweist die Erscheinung der ausgeklappten Kreisform auf ein ästhetisches Potenzial, das aus der seriellen Variation geometrischer Ordnungen schöpft. Auch die Tischbeine nehmen durch ihre von der Tischmitte zum äusseren Radius strebende Positionierung dieses dynamische Potenzial auf. Es liegt nahe, daraus den funktionalistischen Kurzschluss zu ziehen, aus der notwendigen Anordnung der einzelnen Teile ergebe sich zwangsläufig die Schönheit das ganzen Tischs.
Dies entspricht jedoch keinesfalls dem gestalterischen Programm von Bill, das sich 1949 deutlich gegen einen utilitaristisch verstandenen Funktionalismus abgrenzt. «die produktion von massenkonsumgütern soll derart gestaltet werden, dass nicht nur eine relative schönheit aus ihren funktionen heraus entsteht, sondern, dass diese schönheit selbst zur funktion wird.»[7] Zwischen Schönheit und Funktion im Industriedesign existiert für den Autor keineswegs eine Hierarchie, noch fallen Schönheit und Funktion hier in eins. In einem Beitrag für die Zeitschrift werk (dem Sprachrohr des Schweizerischen Werkbunds bzw. der modernen Bewegung) stellt Bill u.a. jene funktionalistischen Gestaltungskriterien, wie sie u. a. im Schweizer Werkbund bis in die 1960er Jahre hinein als ungeschriebenes Gesetz gelten, infrage. So sorgt aus seiner Sicht das oft wiederholte Werkbund-Prinzip der «Materialgerechtigkeit» hinsichtlich bestimmter Materialien (wie etwa Kunststoffen) und Produktionstechniken keineswegs automatisch für eine schöne, d. h. «echte» Formgebung: «andererseits kann bekanntlich aus jedem material jede form hergestellt werden, ohne dass man […] das eine als echt, das andere als unecht bezeichnen dürfte.» Wichtiger als ein «verantwortungsgefühl gegenüber den benützern»[8] – d. h. der potenziellen Funktion eines Gegenstands – sei das «universelle bedürfnis nach formung».[9] Die Vorstellung eines übergeordneten und universellen ästhetischen Bedürfnisses korrespondiert mit einem Verständnis von konkreter Kunst, die den «abstrakten gedanken an sich mit rein künstlerischen mitteln sichtbar [macht] und zu diesem zweck neue gegenstände [schafft]».[10] In beiden gestalterischen Feldern soll vor allem ein ästhetisches Konzept realisiert werden – allerdings unter den Vorzeichen einer industriellen Produktionslogik. Damit greift Bill einerseits auf einen idealistischen Kunstbegriff des 19. Jahrhunderts zurück, der Kunst als Scheinen der Idee auffasst. Andererseits tritt besonders Richard Paul Lohse vehement dafür ein, dass jede Form neuer Gestaltung (in Kunst, Architektur und Design) auf den – ebenfalls universell gültigen – Rahmenbedingungen der Massenproduktion beruhen solle. Gerade aus dieser einzigartigen Verbindung aus Idealismus und einer grundsätzlich positiven Anerkennung industrieller Produktionsbedingungen entstehen allerdings auch einige Widersprüche zum avantgardistischen Anspruch, mit Kunst zu einer «Verwirklichung» beizutragen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Ausstellungspraxis und im Verhältnis der Kunst zum Design.
Die Nivellierung der Hierarchien zwischen den gestalterischen Disziplinen ist zwar Teil des konkreten Programms, doch bemüht man sich in Zürich ebenso penibel, die konventionellen Gattungsgrenzen in Präsentationsformaten aufrechtzuerhalten. Für viele konkrete Künstler gehört es zum gestalterischen Selbstverständnis, Designaufträge auszuführen und die Ergebnisse auch in Ausstellungen zu präsentieren. Gleichzeitig werden Arbeiten aus dem Kunst- und Designkontext jedoch nur selten gemeinsam gezeigt – ausser von Max Bill, der die Nähe zwischen den Disziplinen insbesondere in den 1930er, 40er und 50er Jahren[11] durchaus sucht. Disziplinäre Grenzen sind allerdings auch in diesen Ausnahmefällen auf den ersten Blick zu erkennen: Skulptur und Malerei werden der Kunst, Einrichtungsgegenstände und Gebrauchsgrafik dem Design zugeordnet. Beide Felder begegnen sich vor allem in angedeuteten Einrichtungssituationen, wie sie oft in Ausstellungen des Schweizer Werkbunds anzutreffen waren – so etwa im Mailänder Triennale-Beitrag der Schweiz 1957, der Schau Swiss Design 1959 in London oder wohnen heute im Kunstmuseum Luzern 1960. Während der Triennale-Beitrag Malerei und Gebrauchsgegenstände in einer Atmosphäre gegenseitiger Durchdringung aufgehen lässt, setzt sowohl die Londoner als auch die Luzerner Ausstellungsgestaltung auf eine isolierende Wirkung des White Cube, der Exponate aus Kunst und Design vor weisser Kulisse gleichsam «freistellt» – eine sowohl für Waren- als auch für Kunstkataloge übliche Bezeichnung der fotografischen Bildbearbeitung, um räumliche Situationen in Objekte zu transformieren. In beiden Ausstellungen ist neben Bill und Lohse ein Künstler vertreten, der 1933 zunächst als Innenarchitekt und Designer nach Zürich kommt: Camille Graeser. Nach einigen erfolglosen Versuchen, in Kontakten mit anderen Gestaltern und Industrieunternehmen in der Schweiz eine Existenz aufzubauen (eine Ausnahme bilden die zahlreichen Stoffentwürfe für das Textilunternehmen Burgauer & Cie.), gelangt er mit seiner Malerei zu öffentlicher Anerkennung.[12] Dies erstaunt angesichts der schwebenden Eleganz, die etwa Graesers Tischentwurf für seine Zürcher Wohnung 1936 auszeichnet und dabei durchaus an Bills «wohnbedarf»-Möbel der 1950er Jahre erinnert. In den Werkbund-Präsentationen tritt Graeser dennoch ausschliesslich mit künstlerischen Arbeiten auf. So bestimmt die Präsenz der Malerei Exzentrische Komposition in drei Rhythmusgruppen (1954/1957) den Eindruck einer Ausstellungskoje der vom Schweizer Werkbund organisierten und von Max Bill gestalteten Schau Swiss Design. Dort sind 1959 für zwei Wochen im Londoner Ceylon Tea Centre ausgezeichnete Produkte der «Guten Form» gemeinsam mit Werken konkreter Kunst zu sehen. Graesers Arbeit bildet dabei gleichsam ein farbiges «Fenster» für eine Koje, die mit Bills Quadratrundtisch und Kreuzzargenstühlen ausgestattet ist, umgeben von strahlend weissen Wänden. Ein Jahr später wird Graesers Malerei wieder im Rahmen einer Werkbund-Ausstellung gezeigt – ebenfalls gemeinsam mit Möbeln im perfekten White Cube des Luzerner Kunstmuseums. Gab konkrete Kunst auf der Mailänder Triennale 1957 noch die Ausrichtung der gesamten Ausstellungsgestaltung vor, tritt die Malerei konkreter Künstler sowohl in London als auch in Luzern gewissermassen zurück in einen konventionellen Rahmen.
So gross die personellen und inhaltlichen Überschneidungen zwischen konkreter Kunst und moderner Gestaltung auch sind – gemeinsame Präsentationen der beiden Felder bleiben ebenso die Ausnahme wie experimentelle Formate, die gängige Gattungsgrenzen überschreiten. Viele konkrete Künstler aus Zürich halten sich auch im Kunstkontext – insbesondere ab den 1960er Jahren – an ein Gebot der Trennung zwischen Kunst und Design.
Dies erstaunt angesichts ihrer Texte, die an vielen Stellen die Gemeinsamkeiten gestalterischer Disziplinen in den Blick nehmen. Im Vergleich zu räumlichen Inszenierungen anderer künstlerischer Bewegungen der 1950er und 1960er Jahre, die sich ebenfalls mit der Ästhetik industrieller Massenproduktion auseinandersetzen, wirkt diese Aufrechterhaltung konventioneller Gattungsgrenzen gegenüber dem eigenen programmatischen Anspruch wenig avanciert. Ruft man sich dagegen Präsentationen der Londoner Independent Group in den 1950er Jahren oder Fluxus-Happenings und Pop-Art-Environments der frühen 1960er Jahre ins Gedächtnis, so wird dort gerade mit Grenzüberschreitungen zwischen unterschiedlichen Formaten, Artefakten und Medien aus der industriellen Massenproduktion gearbeitet. Doch nicht nur in der Vermischung unterschiedlicher Gestaltungskontexte unterscheiden sich die genannten Beispiele von den Präsentationen konkreter Kunst und Gestaltung aus Zürich. Sie thematisieren – am deutlichsten sicher die Pop Art – eine Eigenschaft, die vom Prinzip der industriellen Massenproduktion nicht zu trennen ist: die Warenhaftigkeit ihrer Produkte. In den Displays von Schaufenstern, Messen oder Weltausstellungen steht diese Eigenschaft zwangsläufig im Mittelpunkt, handelt es sich doch um Präsentationen, die ihre Attraktivität aus dem ästhetischen Schein der Dinge beziehen. Auch wenn sich beispielsweise Max Bill in seinem leidenschaftlichen Plädoyer gegen einen Funktionalismus ausspricht, der den gestalterischen Entwurfsprozess auf einen blossen Utilitarismus reduziert, wird mit dem Eintreten für eine «Schönheit als Funktion» keineswegs der ästhetische Schein der Ware thematisiert. Als Theodor W. Adorno anlässlich einer Tagung des Deutschen Werkbunds 1965 seinem Unbehagen über den Funktionalismus der Nachkriegsarchitektur Ausdruck verleiht, geht es ihm um jenes «finster[e] Geheimnis», das der Funktionalismus zu verbergen sucht.[13] Damit spielt Adorno auf den Versuch an, die industrielle Gestaltung aus der «Verstrickung» mit den Bedingungen ihrer Herstellung, Präsentation und Distribution als Ware zu befreien. Ein erheblicher Teil des Werkbund-Engagements in Deutschland und der Schweiz konzentriert sich um die 1950er Jahre mit Ausstellungen (wie der von Bill organisierten Schau Die gute Form in Basel 1949) sowie Wohnberatungsstellen und Musterkollektionen auf eine vermeintliche Befreiung vom ästhetischen Schein des Warencharakters. Gestalter, Produzenten und Konsumenten sollen zur Guten Form «aufgeklärt»[14] werden. Allerdings zeigen sich die Aufklärer schon bald ernüchtert über die – gemessen am universalen Anspruch und der internationalen Anerkennung aus Fachkreisen – vergleichsweise marginale Auswirkung auf das Gesamtvolumen der damaligen Produktion.
Auch wenn in einer jüngeren Generation konkreter Künstler die verschiedenen Arbeitszusammenhänge ebenfalls oft getrennt präsentiert werden, wird das Verhältnis zum Warencharakter durchaus anders interpretiert. So konzentriert sich etwa Andreas Christen neben seiner Arbeit im Kunstkontext vor allem auf die Gestaltung anonymer Serienprodukte – wie etwa einen Briefkasten mit integriertem Paketfach, der seit 1974 zwar zur Standardausrüstung Schweizer Haushalte gehört, jedoch nicht unter dem Namen des Designers vertrieben wird. Andererseits zeigt sich bei Christen ein durchaus ironischer Umgang mit dem industriellen Produkt, das gleichermassen als Zeichen für einen bestimmten Gebrauch und eine ästhetische Erscheinung als Ware steht. In einer Zeit, da das Reisen per Auto oder Flugzeug für viele Menschen erschwinglich geworden ist, steht der auf die Grösse eines Kleiderschranks «aufgeblasene» Koffer aus Kunststoff (1964/1983) gleichzeitig für einen praktischen Aufbewahrungsort und für die Ästhetik eines bestimmten Lebensstils. Die Geste, einen gewohnten Alltagsgegenstand beliebig zu vergrössern, erinnert einerseits an die Pop Art von Claes Oldenburg, andererseits könnte man darin auch eine ziemlich lässige Entgegnung auf den konsumkritischen Vorwurf sehen, Design würde die Dinge des Gebrauchs nur «aufblasen».[15] Bereits 1960 entwirft Andreas Christen ein Stapelbett, das durch seine fliessenden Formen die Eigenschaft des Kunststoffs aufnimmt, potenziell jede beliebige Form zu bilden. Auch Wandreliefs, die Christen in Ausstellungen zeigt, basieren auf Kunststoffen sowie industriellen Fertigungstechniken.
Ab den 1960er Jahren kommt es kaum noch zu Überschneidungen, geschweige denn gemeinsamen Präsentationen von Kunst- und Designarbeiten konkreter Künstler aus Zürich. So konzentrieren sich etwa Lohse, Bill und Graeser ab dieser Zeit fast ausschliesslich auf Skulptur und Malerei. Gleichzeitig beginnen neue Stimmen im Schweizerischen Werkbund, das Verständnis von «Guter Form» und generell davon, was und wie gestaltet wird, radikal umzuformulieren. Was sich bisher als Interessenverbund von Gestaltern und Herstellern prämierter Gebrauchsgegenstände verstanden hat, wandelt sich zunehmend zu einer gesellschaftspolitisch aktiven Organisation, die sich vor allem kritisch zur Planung der gebauten Umwelt äussert. Lucius Burckhardt, von 1962 bis 1972 Chefredaktor der Zeitschrift werk und von 1976 bis 1983 Erster Vorsitzender des Deutschen Werkbundes, entwickelt u. a. aus dem Kontext dieser Bewegung den Begriff eines Designs, das gleichsam unsichtbar ist: Weil wir die Gestaltung des Alltags nicht in Form isolierter Objekte wahrnehmen, sondern als komplexe Struktur mit unterschiedlichen zeitlichen, sozialen und ökonomischen Faktoren.[16] An diesem veränderten «Werkverständnis des Werkbundes»[17] waren nicht zuletzt auch neuere Entwicklungen der Kunst beteiligt, über die in Publikationen und im Rahmen von Tagungen informiert wurde: Das offene Werk, dessen physische Dimension kaum bestimmbar ist, das sich mit Performances oder Happenings zeitlich und räumlich ausdehnt und beispielsweise in Gestalt der Land Art bis in hinein in (Stadt-)Landschaften erstreckt. So wirft die letzte Ausgabe des SWB-Warenkatalogs 1969/1970 mit dem Abdruck eines Schlüsselwerks der frühen britischen Pop Art ganz explizit die Frage nach der Warenhaftigkeit und einem multidimensionalen, kritischen Gestaltungsbegriff auf.[18] Richard Hamiltons in einem Essay vorgestellte Collage Just what is it that makes today’s home so different, so appealing? – entstanden für den Katalog der Independent-Group-Ausstellung This Is Tomorrow (Whitechapel Art Gallery, London, 1956) – stellt nicht nur den Produktionsbegriff der Industriegesellschaft infrage, sondern zeugt selbst auch von einem alternativen Werk- und Ausstellungsverständnis.
In den 1980er Jahren setzen Designer wie Ron Arad nicht mit Entwürfen für die grosse Serie, sondern vielmehr mit experimentellen Einzelstücken programmatisch neue Akzente. In London und Weil am Rhein eröffnen 1989 die ersten ausschliesslich auf Design spezialisierten Museen. Auch die Wiederentdeckung des modernen Designs seit Beginn der 1990er Jahre, aus der zahlreiche Re-Editionen hervorgegangen sind, fokussiert in den meisten Fällen auf eine Autorenfigur. Während es in den 1950er Jahren primär um die Etablierung neuer industrieller Standards und in den 1970er Jahren um ein System der Umweltgestaltung ging, zählt nun vor allem das autorisierte «Original». 1992 signiert Max Bill für «wohnbedarf» (parallel zu einer Ausstellung seiner Möbel) eine Re-Edition des von ihm und Hans Gugelot 1954 entworfenen Ulmer Hockers. Seitdem wird der Hocker in unterschiedlichen Versionen von verschiedenen Herstellern produziert, die inzwischen maschinell gedruckte Signatur Bills auf der Unterseite jedoch ist geblieben. Spätestens mit dieser Geste rückt der Schriftzug des Urhebers – aus ökonomischer Perspektive gleichsam das Logo bzw. die Marke – in den Vordergrund jenes Design-Entwurfes, der einst als äusserst sparsam konzipiertes und vielseitig verwendbares Kleinmöbel nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist. Nicht erst an dieser Stelle wird deutlich, dass sich viele Arbeiten konkreter Künstler aus Zürich geradezu lückenlos in die Ökonomien von Design und Kunst einfügen. Einerseits behalten die programmatischen Texte z. B. von Bill und Lohse die gesellschaftlichen und technologischen Rahmenbedingungen von Gestaltung im Blick. Andererseits orientieren sich die Objektkategorien (Malerei, Skulptur, Grafik, Industriedesign) in Ausstellungen grundsätzlich an den in der Kunst- bzw. Designökonomie gängigen Formaten. Darin besteht ohne Zweifel eine der grossen Stärken der Konkreten, konnten doch viele Positionen gerade durch ihre spezifische, den Rahmenbedingungen der jeweiligen Disziplin entsprechende Erscheinung ihre Wirkung sowohl im Design- wie auch im Kunstkontext entfalten. Die Entwurfsprinzipien ästhetischer Arbeit unter industriellen Bedingungen werden dabei über disziplinäre Grenzen hinweg sichtbar. Seriell variierte Zeichen oszillieren auf diese Weise zwischen den Feldern von Grafik, Industriedesign, Ausstellungsgestaltung, Skulptur und Malerei. Der Anspruch, offen zu sein für das Potenzial schier unendlicher Variationen und sogar für einen subjektiven Ausdruck[19] hat, bei gleichzeitiger Beschränkung auf das Prinzip der Serienproduktion, viele konkrete Werke von berückender Schönheit hervorgebracht. Allerdings führt dies auch immer wieder zu Widersprüchen zwischen bestimmten Formaten der Präsentation und programmatischen Äusserungen. Dabei handeln sie gerade in diesen Momenten vom produktiven Ringen um eine Ästhetik der Gegenwart: Eine Ästhetik, die sich von gesellschaftlich-ökonomischen Bedingungen nicht abwendet, sondern darin im umfassenden Sinne nach konkreten Spuren unserer Existenz sucht.
Anmerkungen
[1] Alfred Roth, «Die Schweizer Abteilung an der XI. Triennale von Mailand», in: werk, Band 44, Heft 10, Zürich 1957, S. 339–341.
[2] «Gute Form» entwickelte sich nach der von Max Bill konzipierten und gestalteten Ausstellung Die gute Form (1949 in Basel) zu einem Qualitätssiegel der Nachkriegsmoderne in der Schweiz und in Deutschland. Die Ausstellung umfasste ein breites Spektrum an Beispielen u. a. aus Natur, Wissenschaft, Kunst, Technik, Architektur, Interieur. Bill definierte die Kriterien folgendermassen: «Unter einer guten Form verstehen wir eine natürliche, aus ihren funktionellen und technischen Voraussetzungen entwickelte Form eines Produktes, das seinem Zweck ganz entspricht und das gleichzeitig schön ist.». Vgl. Claude Lichtenstein, «Die schöne Form des guten Gegenstands», in: Max Bill – Sicht der Dinge. Die Gute Form: Eine Ausstellung 1949, Zürich 2015, S. 19–29, hier: S. 23.
[3] Sigfried Giedion, Befreites Wohnen, hg. von Emil Schaeffer, Zürich 1929.
[4] Ebd., S. 5.
[5] Ebd.
[6] Neben den Kooperationen mit konkreten Künstlern entstanden um die 1950er Jahre auch zahlreiche andere Entwürfe für den modernen «wohnbedarf», u. a. von Architekten und Designern wie Hans Gugelot, Wilhelm Kienzle, Hans Bellmann, Fred Ruf und Hans Coray.
[7] Max Bill, «schönheit aus funktion und als funktion», in: Jakob Bill (Hg.), funktion und funktionalismus. schriften: 1945–1988, Bern 2008, S. 15–26, hier: S. 20.
[8] Ebd. , S. 15.
[9] Ebd.
[10] Max Bill, «vom sinn der begriffe in der neuen kunst», in: Margit Weinberg Staber (Hg.), Konkrete Kunst – Manifeste und Künstlertexte, Zürich 2001, S. 47–51, hier: S. 50.
[11] Max Bill versuchte besonders in den von ihm selbst entworfenen Ausstellungsarchitekturen, eigene künstlerische Arbeiten mit Design seiner Zeitgenossen in Verbindung zu bringen: u.a. bei der Triennale Mailand 1936, der Basler Ausstellung Die gute Form 1949 und der Ausstellung Swiss Design in London 1959.
[12] Obwohl Graeser etwa in der Ausstellung Die Wohnung (Stuttgarter Weissenhof-Siedlung 1927) mit seinen Möbel-Entwürfen prominent vertreten war und bei Schweizer Werkbund-Ausstellungen zunächst nur angewandte Gestaltung einreichte, wurden von den Juroren des Schweizer Werkbunds auch 1950 noch seine künstlerischen Entwürfe bevorzugt. Vgl. Christoph Bignens, «Camille Graeser und die Wohnreform in der Schweiz nach 1933», in: Camille Graeser Design, Köln 2002, S. 27–39.
[13] Theodor W. Adorno, «Funktionalismus heute», in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften 10.1., Frankfurt a.M. 1977, S. 393.
[14] Bill, «schönheit aus funktion und als funktion», S. 21.
[15] Hal Foster, Design and Crime (And Other Diatribes), London/New York 2002. Der Autor stellt Design generell unter den Verdacht, einfache Gebrauchsdinge bzw. Architektur lediglich «aufzublasen» und steht damit in einer Tradition der Kulturkritik, die Design vor allem als manipulativen Komplizen der Warenerscheinung sieht. (Vgl. Wolfgang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik: Gefolgt von Warenästhetik im Hightech-Kapitalismus, Frankfurt 2008.) Das amerikanische Design der Stromlinienform war aus dem Werkbund-Umfeld der 1950er Jahre ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt.
[16] Lucius Burckhardt, «Design ist unsichtbar (1980)», in: Silvan Blumenthal et al. (Hg.), Design ist unsichtbar: Entwurf, Gesellschaft & Pädagogik, Berlin 2012, S. 13–29.
[17] Thomas Gnägi, Gestaltung in einer sich verändernden Gesellschaft: Von der Prädikatsstelle zur Informations-und Aktionsplattform, in: Thomas Gnägi, Jasmine Wohlwend Piai, Bernd Nicolai (Hg.), Gestaltung Werk Gesellschaft – 100 Jahre Schweizerischer Werkbund SWB, Zürich 2013, hier: S. 184f.
[18] In einem Essay von Peter F. Althaus, zit. nach Gnägi, wie Anm. 17.
[19] Dies hat Bill immer wieder als Unterscheidung zwischen seiner Auffassung von freien künstlerischen Arbeiten und Gestaltungsaufträgen ins Spiel gebracht. Vgl. z. B. seinen Kommentar zur eigenen Arbeit Kontinuität, in: Ders., FORM Eine Bilanz über die Formentwicklung um die Mitte des XX. Jahrhunderts, Basel 1952, S. 26.